„Open Arms“
Reuters/Guglielmo Mangiapane
„Open Arms"

Minderjährige durften in Italien von Bord

Der Streit über die Geflüchteten auf dem Rettungsschiff „Open Arms“ geht weiter: Seit Wochen harren an Bord mehr als hundert Menschen auf engstem Raum aus und warten auf Erlaubnis, an Land zu gehen. Am Samstag wurde das zumindest den 27 nicht begleiteten Minderjährigen an Bord erlaubt. Die „Open Arms“ geriet längst ins Zentrum der politischen Krise in Rom.

Am Samstag hatte Kapitän Marc Reig vor einer drohenden Eskalation an Bord der „Open Arms“ gewarnt. „Jede Sekunde, die vergeht, rückt die Explosion dieser Bombe näher. Entweder jemand schneidet jetzt das rote Kabel durch und deaktiviert sie, oder die ‚Open Arms‘ wird explodieren“, so Reig mit Blick auf die Lage an Bord.

Mehr als hundert Menschen harren seit zwei Wochen auf dem Schiff der spanischen Hilfsorganisation Proactiva Open Arms aus. Das Schiff liegt seit Donnerstag in unmittelbarer Nähe der italienischen Insel Lampedusa, darf aber nicht anlegen. Es bietet 180 Quadratmeter Platz und hat nur zwei Waschräume.

Nervosität steigt

Der spanische Fernsehsender RTVE zeigte am Samstag Bilder erschöpfter und aufgebrachter Menschen, die Land sehen, dieses aber nicht betreten dürfen. „Warum? Warum?“, rief ein Mann immer wieder. Kapitän Reig versuchte, ihn und andere zu beruhigen. „Die Menschen verlieren die Geduld und sind sehr nervös“, sagte eine Reporterin an Bord.

Es sei schwer zu ertragen, die nur 800 Meter entfernte Insel nicht betreten zu dürfen. Einige hätten gedroht, ins Wasser zu springen. Nach Reigs Appell gaben die italienischen Behörden der Landung von 27 unbegleiteten Minderjährigen, die sich an Bord befanden, grünes Licht. Zwei Minderjährige, die mit Familienmitgliedern unterwegs sind, mussten auf dem Schiff bleiben.

Auch Ärzte gingen auf Anordnung der sizilianischen Justizbehörden an Bord, um die hygienische Lage zu prüfen. Bereits vorige Woche durften einige der Geflüchteten an Land, weil sie medizinische oder psychologische Hilfe brauchten. Die meisten mussten aber weiter an Bord bleiben.

Regierungsstreit über „Open Arms“

In Italien schwelt seit Wochen eine politische Krise, die zum Bruch der Koalition aus rechter Lega und der Fünf-Sterne-Bewegung führte. Die „Open Arms“ ist längst Teil dieser Krise geworden. Anfang des Monats hatte Innenminister Matteo Salvini dem Schiff per Dekret das Einfahren in italienische Gewässer verboten. Ein Gericht hob die Anordnung dann auf, woraufhin Salvini ein neues Dekret erließ, um die „Open Arms“ zu stoppen. Verteidigungsministerin Elisabetta Trenta von Salvinis fallen gelassenem Koalitionspartner, den Fünf Sternen, weigerte sich jedoch, den Erlass gegenzuzeichnen.

„Open Arms“
Reuters/Guglielmo Mangiapane
Die „Open Arms“ liegt seit Wochen vor Italiens Küste

Die Erlaubnis für die Jugendlichen am Samstag ging auch auf einen Brief von Premier Giuseppe Conte an Salvini zurück. Darin hatte sich der Regierungschef am Samstag für die Landung der Minderjährigen aus humanitären Gründen ausgesprochen. Conte bestätigte, dass sechs EU-Länder – Deutschland, Frankreich, Rumänien, Luxemburg, Portugal und Spanien – zur Aufnahme der Menschen bereit seien.

Salvini fordert zur Kostenübernahme auf

In einer Antwort an Conte schrieb Salvini, dass der Premier allein die Verantwortung für die Landung der Minderjährigen übernehmen müsse und dass dieser Beschluss ein „gefährlicher Präzedenzfall“ sei. Die Gefahr sei, dass Italien als „einziger Verantwortlicher für die Aufnahme und die Versorgung aller minderjährigen Migranten im Mittelmeer oder auf der ganzen Welt“ betrachtet werde.

Der 46-jährige Salvini, der seit seinem Amtsantritt vor 14 Monaten einen strengen Einwanderungskurs verfolgt, bedauerte, dass Italien die Kosten für die Versorgung von Menschen übernehmen müsse, die – wie sich später herausstellen könnte – kein Recht darauf hätten. Salvini beklagte, dass EU-Länder, die sich zur Aufnahme von in Italien gelandeten Geflüchteten bereiterklärt hatten, das noch nicht getan hätten.

Ermittlungen gegen unbekannt

In seinem Schreiben betonte Salvini, dass er im Zeichen der „loyalen Zusammenarbeit“ die Landung der Minderjährigen erlauben werde, er ändere jedoch nicht seinen Kurs in Sachen Migration. Seit Tagen beklagt Salvini eine „Strategie“, um Italien zu zwingen, seine Häfen für Rettungsschiffe wieder zu öffnen. Mit den gegenseitigen öffentlichen Briefen dürfte sich das Verhältnis zwischen Salvini und Conte nicht gebessert haben. Die sizilianische Staatsanwaltschaft leitete indes eine Untersuchung wegen mutmaßlicher Freiheitsberaubung ein. Die Ermittlungen laufen noch gegen unbekannt.

Die deutsche Regierung sprach sich kürzlich für eine neue staatliche Seenotrettungsmission im Mittelmeer nach dem Vorbild der EU-Operation „Sophia“ aus. „Wir haben mit Überzeugung an dieser Mission teilgenommen“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag in Berlin. „Wir würden ein neues Mandat, wenn es diese Einigung gäbe, begrüßen.“

Die EU hatte im Frühjahr ihren 2015 gestarteten „Sophia“-Marineeinsatz vor der libyschen Küste gestoppt und kann dort nun keine Menschen mehr aus Seenot retten. Grund ist, dass sich die Mitgliedsstaaten nicht auf ein System zur Verteilung der Geretteten einigen konnten. Ziel der Aktion war es ursprünglich, durch die Bekämpfung der Schleuserkriminalität die Migration aus Libyen einzudämmen. In der Praxis wurde daraus vor allem ein Einsatz zur Rettung von Flüchtlingen von untauglichen oder sinkenden Booten.

Weiteres Schiff wartet

Angesichts der jüngsten Hängepartie um die „Open Arms“ pochte auch die EU-Kommission auf verbindliche Lösungen. „Die Situation, dass Menschen tage- und wochenlang auf See festsitzen, ist unhaltbar“, sagte eine Sprecherin der Brüsseler Behörde. „Einmal mehr werden wir daran erinnert, dass verlässliche und dauerhafte Lösungen im Mittelmeer dringend nötig sind, um sicherzustellen, dass Menschen schnell und sicher von Bord gehen können, und die Hilfe erhalten, die sie benötigen.“

Davon ist man allerdings noch weit entfernt. Das Problem bleibt aber virulent: Südlich von Sizilien wartet auch das Rettungsschiff „Ocean Viking“ mit 356 Geflüchteten auf die Erlaubnis, in einen sicheren Hafen zu fahren. Die Organisationen SOS Mediterranee und Ärzte ohne Grenzen hatten diese Menschen in mehreren Einsätzen in Sicherheit gebracht.