Autorin Raphaela Edelbauer
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Raphaela Edelbauer

Ein Dorf als Österreich-Labor

Der mit Spannung erwartete erste Roman „Das flüssige Land“ von Raphaela Edelbauer ist soeben erschienen. Darin schickt die Autorin eine Physikerin auf biografische Spurensuche und kondensiert die österreichische Gesellschaft und ihren Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auf den Mikrokosmos eines kleinen Dorfes.

In den vergangenen Jahren hat sich die 1992 geborene Raphaela Edelbauer zum Shootingstar der österreichischen Literatur geschrieben. Sie absolvierte das Studium der Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, gewann 2018 mit ihrem ersten Prosaband „Entdecker“ den Hauptpreis der Rauriser Literaturtage und las im selben Jahr beim Bachmannpreis in Klagenfurt, wo sie den Publikumspreis gewann. Das alles sind gewichtige Kennzahlen im Literaturbetrieb, welche die Erwartungen für Edelbauers ersten Roman gehörig hoch ansetzen.

Geworden ist „Das flüssige Land“ eine abgründige und einfallsreiche Parabel auf Österreich und den Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, ein philosophisch-phantastischer Roman, der sich auf die Tradition der Anti-Heimatliteratur bezieht.

Autorin Raphaela Edelbauer in Klagenfurt beim Wettlesens um den Ingeborg Bachmann-Preis
APA/Gert Eggenberger
Edelbauer bei ihrer Lesung in Klagenfurt

Österreich im Kleinen

Ruth Schwarz, die Erzählerin in „Das flüssige Land“, wird vom Unfalltod ihrer Eltern vollkommen aus der Bahn geworfen. Im Affekt nimmt sie sich vor, den beiden ein Grab in ihrer Heimatgemeinde Groß-Einland, irgendwo im Wechsel-Gebiet gelegen, zu verschaffen. Doch das Dorf zu erreichen stellt sich als schwierig heraus. Nur über Umwege findet Ruth den Weg zu dem Ort, der nicht gefunden werden will.

Groß-Einland hat nämlich mit der eigenen Geschichte zu kämpfen. Jahrhundertelang beutete man hier die Bodenschätze in einem Bergwerk aus und ging dabei dermaßen konsequent vor, dass unter dem Dorf nun ein Loch klafft, das die Statik aller Häuser massiv bedroht. Zudem hat Groß-Einland mit seinem Barockkirchlein und dem beschaulichen Dorfplatz eine politische Besonderheit, die es öffentlichkeitsscheu macht.

Der neue Landadel

Neben der demokratisch gewählten Struktur, bestehend aus Bürgermeister und Gemeindevertretern, hat sich eine Industriellenfamilie zum Landadel hochgeschwindelt. Die amtierende „Gräfin“, die zugleich die Immobilien in Groß-Einland besitzt, beherrscht den Ort mit einigen Vertrauten nach Gutdünken. Das Ancien Regime ist hier restauriert und feiert im Vollbesitz seines Selbstbewusstseins fröhliche Urständ. Der Mikrokosmos von Groß-Einland wird für Edelbauer zum Pars pro Toto für Gesamtösterreich.

„Mein Ziel war es“, erzählt die Autorin im Interview mit ORF.at, „ein Land von acht Millionen Menschen in ein Dorf von in etwa 4.000 Leuten zu verdichten.“ Ausgerechnet die Physikerin Ruth soll für die Gräfin arbeiten und wird mit einem Haus belohnt. Schnell wird ihr klar, dass es das Haus ist, in dem ihre beiden Eltern als Adoptivgeschwister aufgewachsen sind. Die entwurzelte Physikerin findet sich schnell in die neue Umgebung ein: „Es war eine lange gesuchte Zugehörigkeit, eine Identifizierung, die mich zusehends mit der Landschaft verband. Ich würde fast sagen: Ich fand eine Heimat.“

Augen zu und weitermachen

Es wäre kein literarisches Labormodell Österreichs, stünde diesem Zugehörigkeitsgefühl nicht einiges im Wege. Ruths Aufgabe im Dienste der Gräfin ist es, ein Füllmittel zu finden, um das bedrohliche Loch zu beseitigen. Doch anstatt sich in die Aufgabe einzulesen, erforscht sie die eigene Familiengeschichte und die Vergangenheit Groß-Einlands als Außenstelle des Konzentrationslagers Mauthausen.

In den letzten Kriegstagen wurden hier Hunderte Zwangsarbeiter ermordet und – so ist sich zumindest Ruth sicher – in das Loch geworfen. Die Verbrechen werden in der Dorfchronik und auf einer Gedenktafel am Hauptplatz freimütig eingestanden. Dass die Fragen der individuellen und kollektiven Schuld damit ungelöst beiseite geschoben werden, stört nur die Physikerin. Gleichzeitig sinken täglich Teile des Dorfes ab, und die Obrigkeit tut ihr Bestes, um die Lage gerade so gut zu kaschieren, dass die Bevölkerung sie ignorieren kann.

Anti-Anti-Anti-Heimatliteratur

Im Roman heißt es dazu: „Wir hatten eine potente Verwaltung des Auseinanderbrechens installiert und führten darin mit respektvoll geschlossenen Augen das Regiment.“ Dieses Setting der gesamtgesellschaftlichen Verdrängung hat Edelbauer lange umgetrieben, wie sie sagt: „Die Gemeinde bricht weg, darunter liegen unglaublich viele Leichen. Wie schaffen es die Leute trotzdem, ihrer ländlichen Wege zu gehen und die Zeltfestatmosphäre aufrechtzuerhalten?“

Buchcover „Das flüssige Land“ von Raphaela Edelbauer
Klett-Cotta

Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land. Klett Cotta, 350 Seiten, 22,70 Euro

Edelbauer beschreibt mit Groß-Einland eine unheimliche und beschädigte Heimat, wie sie in der Anti-Heimatliteratur von Gernot Wolfgruber über Thomas Bernhard bis zu Elfriede Jelinek immer wieder dargestellt wurde. Gleichsam als Antwort auf den heiteren Versuch eines liebenswert-schrulligen Österreichs in Vea Kaisers Romanen, die sich als „Anti-Anti-Heimatromane“ positionieren, nimmt Edelbauer in ihrem Romandebüt eine interessante Verschiebung vor, indem sie sich auf die Wahrnehmungen ihrer Erzählerin konzentriert, die zwischen dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und der tief empfundenen Verbundenheit zu ihrem Mikroösterreich einerseits und der Erschütterung ob des Verdeckens der verbrecherischen Vergangenheit andererseits hin und her gerissen ist. „Das flüssige Land“ ist mit diesem fein kalkulierten Konflikt ein „Anti-Anti-Anti-Heimatroman“.

Metaphysikalische Phantastik

Dieser Konflikt ist in die Phantastik von Groß-Einland eingebettet. Denn hier funktionieren die Dinge nicht nur politisch anders als in Wien, wo Ruth aufgewachsen ist. Wie viel Zeit sie beispielsweise in dem beschaulichen Ort verbringt, ist vollkommen unklar. Mal ist von drei Jahren die Rede, mal behaupten andere Figuren Ruth gegenüber, sie sei seit sechs Jahren in Groß-Einland. Jahreszahlen, die Ruth den Lesern mitteilt, sind mit Vorsicht zu behandeln.

Ruth, das wissen wir schon früh, hilft sich mit starken Opiaten durch den Tag. Gleichzeitig befasst sie sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit der Natur der Zeit. Gerade hier liegt der technische Angelpunkt von Edelbauers ambitioniertem Debütroman. Alles, was hier geschildert wird, wird von einer hochgradig unzuverlässigen Figur gefiltert.

Das erklärt auch den konsequenten, wenn auch gelegentlich umständlich technisierten Stil, in dem beispielsweise Semmeln als „akkurat gespalten“ und die ländliche Gemächlichkeit Groß-Einlands als „götterspeisenhafte Zeitlosigkeit“ benannt wird. Jedenfalls schreibt sich Edelbauer in eine Tradition der Phantastik ein, in der man „Das flüssige Land“ als zeitgenössisches Pendant zu E. T. A. Hoffmanns „Der goldne Topf“, Alfred Kubins „Die andere Seite“ oder Julio Cortazars neophantastischen Kurzgeschichten wie „Axolotl“ lesen kann.

Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises

Einen Erfolg hat „Das flüssige Land“ schon in den Tagen vor dem Erscheinen verbuchen können. Der Roman ist einer von sechs Titeln österreichischer Autoren auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019. Obwohl noch eine Kürzung auf sechs Titel der Shortlist bevorsteht, gilt eine Positionierung auf dieser Liste als Verkaufsgarant.