Obdachloser in Wien
ORF.at
Lücken und Tücken

Obdachlosenhilfe als Herkulesaufgabe

Das soziale Netz in Wien ist vergleichsweise dicht, aufgefangen werden freilich nicht alle: Obdachlose ausländischer Herkunft, häufig aus östlichen EU-Ländern, sind zeitweise alternativlos auf den öffentlichen Raum angewiesen – was ihre Sichtbarkeit im Straßenbild verstärkt. Nachgebessert wird bei der Betreuung laufend, über Art und Dauer der Hilfestellung herrscht aber nicht nur Konsens.

Wenn es vorzeitig winterlich wird in Wien, kann das besonders für Obdachlose aus EU- und Drittstaaten lebensbedrohlich werden, die meisten Leistungen der Wiener Wohnungslosenhilfe bleiben ihnen bis Ende Oktober verwehrt. Anders ist die Lage von November bis April: In diesen Monaten stehen die Notquartiere im Rahmen des Winterpakets allen wohnungslosen Menschen offen, es werden sowohl neue Schlafplätze und Tageszentren geschaffen als auch ganzjährig bestehende erweitert. Im Winter 2018/19 wuchs das Kontingent so um mehr als 900 auf 1.400 Schlafplätze und 700 Plätze in Tageszentren und Wärmestuben an.

Das erste Winterpaket wurde vor zehn Jahren geschnürt, als im Zuge der „#unibrennt“-Bewegung der Öffentlichkeit die prekäre Situation ausländischer Obdachloser vor Augen geführt wurde. Im besetzten Audimax der Universität Wien wurde die Zahl der protestierenden Studierenden im Laufe der Wochen immer weniger, während jene der Obdachlosen wuchs. Die Stadt Wien ergriff Maßnahmen und stellte erstmals Notquartierplätze für Nichtanspruchsberechtigte bereit – seitdem wurde das Winterpaket vom Fonds Soziales Wien (FSW) organisiert und sukzessive ausgebaut.

Besetzer des Audimax der Universität Wien
APA/Herbert Neubauer
Vor rund zehn Jahren besetzten Studierende und Obdachlose den größten Hörsaal der Universität Wien

Genaue Zahlen gibt es nicht

Im vergangenen Winter haben nach Auskunft des FSW knapp 3.000 Frauen und Männer die Angebote des Winterpakets genutzt, rund ein Viertel davon mit österreichischer Staatsbürgerschaft – 2012/13 lag ihr Anteil noch bei 34 Prozent. Menschen aus der Slowakei, Rumänien und Ungarn (jeweils über zehn Prozent) und Polen machen gemeinsam die größte Klientel aus. Wobei sich der Anstieg von Ungarn trotz der dortigen Kriminalisierung von Obdachlosigkeit im Herbst 2018 sehr in Grenzen hielt. „Ungarn war schon bisher sehr restriktiv gegenüber obdach- und wohnungslosen Menschen“, hielt Jakob Reisinger, Pressesprecher des FSW, gegenüber ORF.at fest.

Wie sich die Obdachlosenzahlen in Wien genau entwickeln, lässt sich mangels entsprechender Untersuchungen nicht beantworten, sagte Reisinger. „2017 nutzten insgesamt rund 11.100 Personen die Angebote der Wiener Wohnungslosenhilfe, 2018 waren es 11.730 Personen. Das heißt aber nicht, dass es zwingend mehr geworden sind. Das Angebot wird, ob der fortschreitenden Professionalisierung und Spezialisierung – etwa auf wohnungslose Frauen – besser angenommen.“

Akute Platznot im Mai

Ab Mai sind die Nichtanspruchsberechtigten jedenfalls wieder sich selbst überlassen – wobei ihnen im Gegensatz zu vor zehn Jahren zumindest einige Möglichkeiten offenstehen, um nicht auf der Straße schlafen zu müssen. Deutlich zu wenige allerdings, geht es etwa nach den VinziWerken Wien. Der vergangene Mai war einer der kältesten seit drei Jahrzehnten, entsprechend groß war der Andrang auf allen Obdachlosen offenstehende Notunterkünfte. Mit vorhersehbaren Folgen: „Wir konnten täglich etwa zehn Personen keinen Schlafplatz anbieten. Und Alternativen in anderen Einrichtungen standen auch nicht zur Verfügung“, sagte Rafael Kirchtag, Koordinator der Wiener VinziWerke.

Und er warnte: „Die zur Verfügung stehenden Plätze könnten sich in den nächsten zwei Jahren drastisch reduzieren, wenn wir für unsere zwei Notschlafstellen (VinziBett und VinziPort) keine neuen Standorte finden. Beide müssen ausziehen und die Standortsuche war bisher noch nicht erfolgreich.“ Die beiden Stellen bieten für 100 Personen Platz, dazu kommt noch die VinziRast mit bis zu 60 Übernachtungsplätzen.

VinziPort als Pionier

Das VinziPort am Rennweg ist ein Pionier: 2010 eröffnete es als erste Notschlafstelle in Wien für EU-Bürger. Viele sind – außerhalb des Winterpakets – nicht dazugekommen: Von der Caritas betrieben wird das Projekt KuWo (Kurzzeitwohnen für besonders gefährdete obdachlose EU-Bürgerinnen) in der Zweiten Gruft in Wien-Währing; auch deren Tageszentrum steht für Menschen jeder Herkunft offen. Im Haus Amadou gibt es kurzfristig Unterkunft für obdachlose Menschen mit Migrationshintergrund, Haus Frida bietet speziell Unterkünfte für Frauen und Kinder an. Zudem betreibt die Caritas eine Sozial- und Rückkehrberatung an, die vom FSW mitfinanziert wird.

„Das Regelangebot der Wiener Wohnungslosenhilfe steht größtenteils anspruchsberechtigten Personen zur Verfügung“, sagte FSW-Sprecher Reisinger – das sind Österreicher und Österreicherinnen sowie Gleichgestellte. Laut geltendem Freizügigkeitsrecht können sich EU-Bürger und -Bürgerinnen drei Monate ohne Bedingungen in einem anderen EU-Land aufhalten. Danach darf nur bleiben, wer studiert oder über eine Arbeit und ausreichend Einkommen verfügt.

Die meisten Abschiebungen betreffen Europäer

Andernfalls ist der Aufenthalt illegal, Anspruch auf Sozialhilfeleistungen besteht entsprechend nicht – vielmehr droht die Außerlandesbringung: Im Vorjahr wurden laut Innenministerium 2.900 Menschen aus Europa abgeschoben, das entspricht 60 Prozent aller Abschiebungen. Die meisten von ihnen betrafen Menschen aus der Slowakei, Serbien, Ungarn und Rumänien.

„Großteils handelt es sich hier um Menschen, die das eigene Leben verbessern wollen und mit der Intention der Arbeitssuche nach Wien kommen“, sagte Reisinger – und dabei zumindest auf Dauer scheitern. Für Menschen, die in ihren Heimatländern bereits obdachlos seien oder in prekären Verhältnissen leben würden, käme aus finanziellen und oft auch gesundheitlichen Gründen ein Ortswechsel gar nicht in Frage.

Person schlft in Schlafsack auf Straße
APA/dpa/Nicolas Armer
Zumindest in der Theorie gäbe es im Winter für alle obdachlosen Menschen in Wien Schlafplätze

Warum die Notschlafstellen der Stadt nicht das ganze Jahr über offen bleiben können, beantwortete Kurt Gutlederer, Leiter der Wohnungslosenhilfe im FSW, gegenüber der Straßenzeitung „Augustin“ unlängst folgendermaßen: Einerseits sollten keine Personen dauerhaft gefördert werden, die sich nicht rechtmäßig in Wien aufhalten. Anderseits würde dieses Angebot die Situation der Obdachlosen zementieren. Natürlich sei jemand, der obdachlos ist, auch im Sommer in einer Notsituation – „aber die Gefährdung ist nicht dieselbe“.

Chancenhäuser als Alternative

Der FSW verfolgt nun einen anderen Ansatz: Chancenhäuser genannte Einrichtungen stehen ganzjährig allen, auch nicht anspruchsberechtigten, Obdachlosen zur Verfügung. Das Angebot, so Reisinger, umfasst die Notunterbringung in Einzel- oder Doppelzimmern, Tagesaufenthalt und Beratung. Drei Monate lang erhalten die Menschen Unterstützung in ihrer Notlage, mittels Sozial- und Rückkehrberatung werden ihre Zukunftsperspektiven abgeklärt. Derzeit gibt es in Wien drei dieser Häuser.

Das Konzept basiert auf dem Prinzip „Housing First“, das eine Alternative zum herkömmlichen System von Notunterkünften und vorübergehender Unterbringung darstellen soll. Seit einigen Jahren wird der ursprünglich aus der US-amerikanischen Sozialpolitik kommende Ansatz auch in Europa umgesetzt – am konsequentesten, zumal bundesweit, in Finnland. Wie etwa der britische „Guardian“ unlängst berichtete, ist die Straßenobdachlosigkeit dort kaum mehr vorhanden.

Thermoskannen und Tassen in Obdachlosenunterkunft
APA/Herbert Neubauer
Jahr für Jahr wird mit Anfang November das Winterpaket des FSW geschnürt

Hohe Erfolgsquote bei „Housing First“

In Wien war das neunerhaus die erste Sozialorganisation, die den Ansatz in einer Pilotphase zwischen 2012 und 2015 getestet hat – sehr erfolgreich, wie Geschäftsführerin Elisabeth Hammer gegenüber ORF.at sagte. Sie sieht „Housing First“ heute als einen unverzichtbaren Bestandteil der Wiener Wohnungslosenhilfe: „95 Prozent Mietstabilität ist eine Erfolgsquote, die sich sehen lassen kann. Auch nach Jahren sind so gut wie alle Mietverträge aufrecht. Nur eine eigene, leistbare Wohnung, die mietvertraglich abgesichert ist, beendet Wohnungslosigkeit nachhaltig.“

Auch die VinziWerke, die seit 2012 das „Housing First“-Projekt VinziDach in Salzburg betreiben, sprechen von einer 93-prozentigen Erfolgsquote, geben allerdings zu bedenken: „Für Personen, deren Ansprüche unsicher und prekär sind, muss es weiter Angebote einer Grundversorgung in Form von Notschlafstellen geben muss. Ansonsten wird sich die sichtbare Obdachlosigkeit verstärken.“ Die sozialen und gesundheitlichen Folgen für die betroffenen Menschen würden sich verschlimmern.

Niederschwellige Notquartiere bleiben notwendig

Diese Sorge teilt auch die heuer ins Leben gerufene Initiative Sommerpaket, ein „Zusammenschluss aus BasismitarbeiterInnen“ der Winternot- und Wohnungslosenhilfe. In einem offenen Brief an Stadt Wien und FSW wurde festgehalten: „Die Transformation aller Notquartiere zu Chancenhäusern würde die Realität ignorieren. Sie führt zur Ausgrenzung von Personengruppen und somit zur Verfestigung akuter Obdachlosigkeit. (…) Aus unserem Arbeitsalltag heraus stellen wir fest, dass viele Menschen Schwierigkeiten mit den Strukturen höherschwelliger Einrichtungen haben. Niederschwellige Notquartiere und Chancenhäuser ergänzen einander – keinesfalls kann das eine Angebot das andere ersetzen.“

Dringlichste Forderung der Initiative ist aber, dass der FSW das ganze Jahr über Unterkünfte zur Verfügung stellt – und zwar für alle, unabhängig von ihrem Rechtsanspruch auf Sozialleistungen. „Wenn Wien sich wirklich als eine soziale Stadt beweisen will, dann muss sie einen Mindeststandard für ein menschenwürdiges Leben vor allem für ihre ärmsten und schwächsten BewohnerInnen setzen. Menschen vor dem Kältetod zu schützen, ist dafür nicht ausreichend.“