Britische Premier Boris Johnson
Reuters
Showdown im Parlament

Johnson verliert absolute Mehrheit

Der britische Premierminister Boris Johnson hat die absolute Mehrheit im Unterhaus verloren. Ein Abgeordneter von Johnsons Konservativer Partei wechselte – während einer Rede des Premiers – am Dienstag in London zur Fraktion der proeuropäischen Liberaldemokraten. Der Wechsel erfolgte unmittelbar vor dem entscheidenden Machtkampf im Parlament zu Johnsons umstrittenen Brexit-Plänen.

Kurz nachdem Johnson mit einer Erklärung begonnen hatte, verließ der konservative Abgeordnete Phillip Lee am Dienstag die Bänke der Regierungsfraktion und nahm zwischen den Oppositionsabgeordneten Platz. Lee begründete seinen Schritt mit Johnsons Brexit-Politik. Er habe sich die Entscheidung nicht leichtgemacht, zumal er bereits 27 Jahre Mitglied der Konservativen Partei gewesen sei. Doch sei er zu dem Schluss gekommen, dass es ihm nicht mehr möglich sei, als Mitglied der Konservativen seinen Wählern und dem Land zu dienen, heißt es in einem an den Premierminister adressierten Schreiben.

Der erst seit wenigen Wochen amtierende Johnson hatte wegen einer Nachwahl im Sommer mit seinen Konservativen und deren Partner, der nordirischen DUP, zuletzt nur noch eine einzige Stimme Mehrheit im britischen Parlament. Wie er nun seine umstrittene Linie im Brexit-Streit mit der Europäischen Union durchziehen will, ist offen. Der Verlust der rechnerischen Mehrheit bedeutet aber nicht, dass Johnson sofort zurücktreten muss.

Abgeordnete wollen „No Deal“-Szenario verhindern

Die Opposition und „Rebellen“ aus Johnsons Tory-Fraktion planten indes, nach der Rückkehr aus der Sommerpause einen Gesetzesvorstoß auf den Weg bringen, um einen EU-Ausstieg ohne Vertrag zu blockieren und den am 31. Oktober geplanten Brexit notfalls um drei Monate zu verschieben. Sie wollen einen ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der EU am 31. Oktober per Gesetz verhindern.

Dafür müssen sie die Tagesordnung im Unterhaus ändern. Über diesen Antrag wird am Dienstagabend abgestimmt. Johnson kritisierte den geplanten Gesetzesentwurf der „No Deal“-Gegner scharf. Das käme einer „Kapitulation“ gegenüber Brüssel gleich. „Es würde unseren Freunden in Brüssel ermöglichen, die Bedingungen der Verhandlungen zu diktieren“, sagte der Premier. Am Montag wolle er den irischen Regierungschef Leo Varadkar treffen. Die irische Regierung erklärte daraufhin, dass sie sich in den kommenden Wochen intensiv auf ein „No Deal“-Szenario vorbereite.

Er werde gegen diejenigen kämpfen, die die Konservative Partei „von einer breiten Kirche in eine enge Fraktion“ verwandeln wollten, so Ex-Finanzminister Philip Hammond. Johnson hatte zuvor seine Parteikolleginnen und Parteikollegen unter Druck gesetzt und mit Parteiausschluss und dem Verbot eines weiteren Antretens bei Wahlen gedroht.

Philip Hammond, Ex-Finanzminister und Teil der Tory-Rebellen
APA/AFP/Niklas Hallen
Ex-Finanzminister Philip Hammond hat Johnson den Kampf angesagt

Verhärtete Fronten

Daraufhin verlief auch ein Treffen einiger Tory-Rebellen offenbar in frostiger Atmosphäre: Johnson habe keine überzeugende Erklärung abgegeben, wie mit der EU ein neuer Deal vor 31. Oktober zustande kommen solle, so die Abgeordneten. Und es habe auch keine Antwort gegeben, wieso die Regierung noch immer keine Alternative zum „Backstop“ vorgebracht habe.

Johnson habe das Parlament eine „Junta“ genannt, hieß es. Zuletzt hatte er dem Parlament vergangene Woche eine fünfwöchige Zwangspause auferlegt, die nach den parlamentarischen Debatten am 9. September beginnt.

Der Johnson gegenüber treue Außenminister Dominic Raab warf unterdessen Parlamentariern „Tricksereien“ vor. Damit würden falsche Vorstellungen in der EU genährt, dass Großbritannien den Ausstieg aus der Europäischen Union verschieben oder sogar absagen könnte. „Es wird keine weitere Verlängerung geben“, sagte er im Gespräch mit dem Sender Sky News.

Neuwahl als Notbremse

Auch Neuwahlen werden offenbar als Option heftig debattiert. Johnson selbst warnte vor einer vorzeitigen Wahl, sollten die Abgeordneten bei einer Abstimmung gegen seinen Brexit-Kurs stimmen. Im Falle einer Niederlage strebe Johnson allerdings eine Neuwahl im Oktober an, sagte ein Regierungsvertreter am Montagabend in London.

„Backstop“-Regel

Diese Regel gilt als größter Kritikpunkt am Brexit-Paket der nunmehrigen Ex-Regierungschefin Theresa May. Sie sieht vor, dass Großbritannien mit der EU in einer Zollunion bleibt, wenn keine andere Vereinbarung getroffen wird. Hardliner für den Austritt fürchten eine Bindung an die EU auf unabsehbare Zeit.

Im Falle einer Niederlage werde die Regierung bereits am Mittwoch eine Abstimmung über Neuwahlen beantragen, sagte der Regierungsvertreter. Um Neuwahlen herbeizuführen, ist nach britischem Recht eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit erforderlich. Die oppositionelle Labour-Partei hat sich bereits für eine Wahl ausgesprochen.

Der Premierminister wolle zwar keine Neuwahl, aber die Entscheidung darüber falle nun den Abgeordneten bei ihrer Abstimmung zu, sagte der Regierungsvertreter weiter. Die vorgezogene Wahl würde am 14. Oktober stattfinden – sodass eine Regierungsbildung vor dem Austrittstermin am 31. Oktober möglich wäre.

Corbyn-Aufruf an alle Abgeordneten

Der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn will, dass seine Labour-Partei am Mittwoch im Parlament für eine Neuwahl am 14. Oktober stimmt. Allerdings solle damit ein Mechanismus verbunden sein, dass der Brexit-Termin am 31. Oktober verschoben werde, um einen Ausstieg aus der EU ohne Vertrag zu vermeiden, berichtete der Politikressortchef der Zeitung „The Sun“, Tom Newton Dunn, unter Berufung auf Parteikreise.

Demonstation vor dem britischen Parlament
AP/Matt Dunham
Auch vor dem Parlament wird Stimmung gegen Johnson und den „No Deal“-Brexit gemacht

Johnson hat erklärt, bis zum EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober eine Einigung mit der EU über ein neues Abkommen erzielen zu wollen. Die Chancen auf eine Neuverhandlung seien zuletzt „gestiegen“, hatte Johnson nach einer Krisensitzung seines Kabinetts am Montagabend gesagt. Der Chefunterhändler der EU für den Brexit, Michel Barnier, hatte hingegen erst am Sonntag bekräftigt, dass eine Streichung der von Johnson abgelehnten „Backstop“-Regelung in dem Austrittsabkommen für die EU nicht verhandelbar sei.

Britischer Brexit-Minister attackiert EU

Der britische Brexit-Minister Stephen Barclay warf der EU in einem Zeitungsinterview einen Mangel an Kompromissbereitschaft vor – und warnte wie Johnson davor, dass das Festhalten der EU am „Backstop“ zu einem Eigentor für Brüssel werden könnte. Denn im Falle eines ungeregelten Brexits am 31. Oktober würde die umstrittene Regelung gar nicht erst in Kraft treten, sagte er der deutschen „Welt“ und anderen Medien.

Mit dem „Backstop“ will die EU eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland verhindern. Doch im Falle eines „No Deal“-Brexits würden die „Risiken schon im November eintreten statt wie durch die Übergangsphase vorgesehen erst im Dezember 2020 oder bei einer Verlängerung sogar ein oder zwei Jahre später“, sagte Barclay den Zeitungen. Die EU rief er dazu auf, ihren „absolutistischen Ansatz“ aufzugeben. „Dann stehen wir bereit“ für eine Lösung, sagte Barclay weiter.

EU bleibt bei ihrer Position

Die EU-Kommission geht von einem EU-Austritt Großbritanniens am 31. Oktober aus. Dieses Szenario sei „unsere Annahme“, sagte eine EU-Kommissionssprecherin am Dienstag in Brüssel. Ein „No Deal“-Brexit sei „nicht unser gewünschtes Szenario“. Dennoch wolle die EU-Kommission eine Mitteilung über weitere Anpassungen bereits bestehender Maßnahmen für die Vorbereitung auf einen „No Deal“ beschließen.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Barnier wollten am Mittwoch die EU-Kommission über die aktuellen Entwicklungen informieren, sagte die Sprecherin weiter. Dabei wolle Juncker das Kollegium über sein jüngstes Telefonat mit Johnson unterrichten. Barnier werde einen Überblick über die laufenden technischen Gespräche zwischen der EU und Großbritannien und über die jüngsten Entwicklungen geben.

Angesprochen auf Aussagen von Johnson, wonach es in den Brexit-Gesprächen Fortschritte gebe, wollte die EU-Kommissionssprecherin nicht auf Inhalte eingehen. Es sei ein Fortschritt im Prozess, dass nach dem G-7-Gipfel wieder Gespräche stattfänden, sagte sie. Es sei vereinbart worden, dass sich die EU-Verhandler zweimal pro Woche mit den britischen Spitzenbeamten treffen. Die EU-Kommission sei „ein ehrlicher Makler“, versicherte die Sprecherin. Die EU-Kommission arbeite rund um die Uhr und stehe für die britischen Gesprächspartner immer zur Verfügung.