Britische Premier Boris Johnson im Unterhaus des Parlaments in London
Reuters/UK Parliament/Jessica Taylor
Zeichen stehen auf Neuwahl

Johnson erleidet Niederlage im Parlament

Die Gegner eines ungeordneten EU-Austritts haben dem britischen Premierminister Boris Johnson eine empfindliche Niederlage zugefügt. Die Abgeordneten stimmten am Dienstag mehrheitlich für einen Beschluss, der den Weg für ein Gesetz gegen einen „No Deal“-Brexit ebnet. Johnson kündigte umgehend einen Antrag auf vorgezogene Neuwahlen an.

Mit 328 zu 301 Stimmen setzten sie ihr Anliegen durch, die Kontrolle über die Tagesagenda des Parlaments am Mittwoch zu gewinnen – damit ist auch der Weg für eine weitere Verschiebung des Brexit-Termins frei. Mit der gewonnenen Abstimmung wollen Johnsons Kritiker – darunter 21 Tory-Rebellen – ab Mittwoch in Rekordzeit ein Gesetz durchs Parlament peitschen, das Johnsons Handlungsspielraum erheblich einschränken würde.

Sollte bis zum 19. Oktober kein mit der EU vereinbartes Austrittsabkommen vorliegen, verpflichtet das Gesetz den Regierungschef, in Brüssel eine dreimonatige Brexit-Verschiebung bis zum 31. Jänner 2020 zu beantragen. Die 27 EU-Staaten müssten dem Antrag jedoch einstimmig zustimmen. Frankreich war schon im April anfänglich gegen die damalige Fristverlängerung.

Neuwahl Mitte Oktober?

Johnson – der damit auch seine erste Abstimmung als Premier verloren hat – kündigte daraufhin am Dienstagabend an, einen Antrag auf vorgezogene Neuwahlen im Parlament einbringen zu wollen, sollte der Gesetzesentwurf erfolgreich sein. Eine Neuwahl könnte schon Mitte Oktober stattfinden. Dafür bräuchte er aber zwei Drittel der Stimmen im Unterhaus.

Britische Premier Boris Johnson im Unterhaus des Parlaments in London
Reuters/UK Parliament/Roger Harris
Das Vorgehen der Parlamentarier ist beispiellos

Labour will Neuwahlantrag nicht unterstützen

Die größte Oppositionspartei, Labour, ist zwar nach Angaben ihres Chefs Jeremy Corbyn bereit für eine Wahl. Am Mittwochvormittag sagte der für Brexit-Angelegenheiten zuständige Labour-Abgeordnete Keir Starmer jedoch, dass man Johnsons Vorschlag für eine Neuwahl nicht unterstützen werde. Labour werde „nicht zu Johnsons Melodie tanzen“, sagte Starmer gegenüber dem Nachrichtensender Sky News. Corbyn erklärte in den letzten Tagen bereits, einen Neuwahlantrag nur dann unterstützen zu wollen, wenn der „No Deal“-Brexit-Gesetzesentwurf im Unterhaus angenommen wird.

Andere Optionen wären, dass Johnson einen Misstrauensantrag gegen die eigene Regierung einbringt, für den nur eine einfache Mehrheit erforderlich wäre. Auch die Opposition könnte einen Misstrauensantrag stellen.

Beispielloses Vorgehen

Das Vorgehen ist beispiellos. Die Abgeordneten sahen sich zu diesem Manöver gezwungen, weil Johnson dem Parlament eine mehrwöchige Zwangspause verordnet hat, die bereits in der nächsten Woche beginnt. Die Abgeordneten sollen dann erst wieder am 14. Oktober zurückkehren. Dagegen laufen gerichtliche Verfahren, unter anderem in Schottland.

Die Parlamentarier wollten verhindern, dass Großbritannien am 31. Oktober ohne Übergangsregeln aus der EU ausscheidet. Sie warnen vor Chaos, Nahrungsmittelknappheit und einem Konjunktureinbruch. Johnson will die Option eines ungeregelten Austritts aber offen halten, weil er hofft, die EU damit zu Konzessionen zu bewegen.

Einen Rückschlag musste Johnson auch gleich zu Beginn der parlamentarischen Auseinandersetzung einbüßen: Der Tory-Politiker Rory Stewart wechselte – während Johnson am Rednerpult stand – aus Protest gegen dessen Brexit-Politik demonstrativ die Regierungsfraktion und nahm unter den Oppositionsabgeordneten Platz. Die Retourkutsche kam wenig später: Stewart wurde per SMS aus der Partei ausgeschlossen, wie er selbst mitteilte.

In Sozialen Netzwerken machte indes auch ein Foto die Runde, das den Brexiteer Jacob Rees-Mogg während der stundenlangen Debatte bei einem Nickerchen zeigt.

Erste Klage gegen Zwangspause abgelehnt

Das oberste schottische Zivilgericht lehnte unterdessen eine Klage gegen die von Johnson erwirkte mehrwöchige Zwangspause des britischen Parlaments ab. Das berichtete die Nachrichtenagentur PA am Mittwoch aus dem Gerichtssaal in Edinburgh. Geklagt hatten etwa 75 Parlamentarier. Sie sehen in der von Johnson erwirkten wochenlangen Schließung eine unzulässige Einschränkung des Parlaments. Ähnliche Klagen wurden auch vor Gerichten im nordirischen Belfast und in London eingereicht.

Am Donnerstag sollte der Fall vor dem High Court in der britischen Hauptstadt verhandelt werden. Ein letztinstanzliches Urteil dürfte aber am Ende der Supreme Court fällen. Der Klage in London hatte sich auch der frühere konservative Premier John Major angeschlossen.

Gesetzesentwurf für Johnson „Kapitulation“

Johnson kritisierte den geplanten Gesetzentwurf der „No Deal“-Gegner am Dienstagabend scharf. Das käme einer „Kapitulation“ gegenüber Brüssel gleich. „Es würde unseren Freunden in Brüssel ermöglichen, die Bedingungen der Verhandlungen zu diktieren“, sagte der Premier. Vor allem der „Backstop“ – eine von der EU geforderte Garantieklausel für eine offene Grenze in Irland – müsse gestrichen werden. Aufseiten der EU gebe es Bewegung, sagte Johnson. „Die Chancen für einen Deal sind gewachsen.“

Er teilte zudem mit, sich am Montag mit dem irischen Regierungschef Leo Varadkar treffen zu wollen – Irland erklärte indes, in den kommenden Wochen die Vorbereitungen auf ein „No Deal“-Szenario intensivieren zu wollen. Nach Angaben der EU-Kommission waren inhaltliche Fortschritte bis Dienstag nicht zu vermelden.

Adrowitzer (ORF) über den Brexit-Machtkampf

ORF-Korrespondent Roland Adrowitzer über mögliche Neuwahlen in Großbritannien, die Chancen für ein Gesetz gegen einen harten Brexit und welche Strategie Premier Johnson verfolgt.

EU bleibt bei ihrer Position

Die EU-Kommission geht von einem EU-Austritt Großbritanniens am 31. Oktober aus. Dieses Szenario sei „unsere Annahme“, sagte eine EU-Kommissionssprecherin am Dienstag in Brüssel. Ein „No Deal“-Brexit sei „nicht unser gewünschtes Szenario“. Dennoch wolle die EU-Kommission eine Mitteilung über weitere Anpassungen bereits bestehender Maßnahmen für die Vorbereitung auf einen „No Deal“ beschließen.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier wollten am Mittwoch die EU-Kommission über die aktuellen Entwicklungen informieren, sagte die Sprecherin weiter. Dabei wolle Juncker das Kollegium über sein jüngstes Telefonat mit Johnson unterrichten. Barnier werde einen Überblick über die laufenden technischen Gespräche zwischen der EU und Großbritannien und über die jüngsten Entwicklungen geben.

Dokument: EU will Firmen, Arbeiter und Bauern wappnen

Die Kommission will offenbar Finanzhilfen für Unternehmen, Arbeiter und Bauern in der Europäischen Union vorschlagen, falls Großbritannien die Staatengemeinschaft ohne Austrittsabkommen verlässt. Das geht aus Dokumenten hervor, die die Nachrichtenagentur Reuters einsehen konnte.

Darin enthalten ist auch die erneute Warnung, dass eine Trennung ohne Vertrag ernsthafte negative wirtschaftliche Konsequenzen für beide Seiten haben werde, allerdings erheblich schlimmere für Großbritannien. Eine Übergangsphase zur Vorbereitung und Anpassung werde es nicht geben.

Dem Vorschlag zufolge soll zum Beispiel der EU-Solidaritätsfonds angezapft werden können, um finanzielle Nachteile für EU-Staaten zu mildern, die bisher besonders enge Handelsbeziehungen zu Großbritannien pflegen. Normalerweise sind die Mittel zur Unterstützung für Opfer von Naturkatastrophen in der EU gedacht.

London plant Zusatzausgaben in Milliardenhöhe

Die britische Regierung kündigte unterdessen zur Bewältigung der Brexit-Folgen zusätzliche Ausgaben in Höhe von zwei Milliarden Pfund (rund 2,2 Mrd. Euro) an. Finanzminister Sajid Javid werde am Mittwoch vor dem Unterhaus verkünden, dass die zusätzlichen Mittel im Jahr nach dem EU-Austritt ausgegeben werden sollen, so die britische Regierung.