Der britische Premier Boris Johnson
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Neuwahlvorstoß

Johnson will am 15. Oktober wählen lassen

Vor dem Hintergrund des harten Ringens um den Brexit hat der britische Premierminister Boris Johnson Mittwochnachmittag eine vorgezogene Wahl für den 15. Oktober vorgeschlagen. Dafür brauchte er aber zwei Drittel der Stimmen im Unterhaus.

Johnson sagte in einer hitzigen Parlamentsdebatte, wenn Labour-Chef Jeremy Corbyn ein Gesetz gegen die Brexit-Strategie seiner Regierung unterstütze, müsse die Bevölkerung „ihre Sichtweise“ zum Ausdruck bringen können.

Am Mittwochvormittag sagte der für Brexit-Angelegenheiten zuständige Labour-Abgeordnete Keir Starmer jedoch, dass man Johnsons Vorschlag für eine Neuwahl nicht unterstützen werde. Labour werde „nicht zu Johnsons Melodie tanzen“, sagte Starmer gegenüber dem Nachrichtensender Sky News. Corbyn hatte in den letzten Tagen bereits erklärt, einen Neuwahlantrag nur dann unterstützen zu wollen, wenn der „No Deal“-Brexit-Gesetzesentwurf im Unterhaus angenommen wird.

Theresa May
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May und das konservative Urgestein Kenneth Clarke verfolgen amüsiert, ja fast süffisant von der Abgeordnetenbank aus die Abstimmung

Abstimmungsschlappe für Johnson

Die Gegner von Johnsons Brexit-Kurs hatten am Dienstag – gegen den Willen der Regierung – den Weg für ein Gesetzgebungsverfahren frei gemacht, mit dem ein EU-Austritt Großbritanniens ohne Abkommen am 31. Oktober verhindert werden soll.

Mit 328 zu 301 Stimmen setzten sie ihr Anliegen durch, die Kontrolle über die Tagesagenda des Parlaments am Mittwoch zu gewinnen – damit ist auch der Weg für eine weitere Verschiebung des Brexit-Termins frei. Die Vorgängerin von Johnson als Premierministerin, Theresa May, stimmte nicht gegen ihren parteiinternen Erzfeind Johnson, verfolgte allerdings die Debatte und Abstimmung mit einem amüsierten Lächeln.

Theresa May
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Auch bei der Heimfahrt ist May die Genugtuung über Johnsons Schlappe noch anzusehen

Torys schlossen Rebellen aus

Die Konservative Partei schloss 21 Abgeordnete des Londoner Unterhauses aus der Partei aus, weil sie am Dienstagabend gegen den erklärten Willen von Johnson mit der Opposition stimmten. Unter den Ausgeschlossenen sind Nicholas Soames, ein Enkel des legendären britischen Premierministers Winston Churchill, und die früheren Finanzminister Philip Hammond und Kenneth Clarke.

Britische Premier Boris Johnson im Unterhaus des Parlaments in London
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Das Vorgehen der Parlamentarier ist beispiellos

Mit der gewonnenen Abstimmung wollen Johnsons Kritiker – darunter jene 21 Tory-Rebellen – ab Mittwoch in Rekordzeit ein Gesetz durchs Parlament peitschen, das Johnsons Handlungsspielraum erheblich einschränken würde.

Sollte bis zum 19. Oktober kein mit der EU vereinbartes Austrittsabkommen vorliegen, verpflichtet das Gesetz den Regierungschef, in Brüssel eine dreimonatige Brexit-Verschiebung bis zum 31. Jänner 2020 zu beantragen. Die 27 EU-Staaten müssten dem Antrag jedoch einstimmig zustimmen. Frankreich war schon im April gegen die damalige Fristverlängerung.

Abgeordneter Jacob Rees-Mogg
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Johnsons Verbündeter Rees-Mogg hielt nicht viel von der Debatte und dem Vorgehen der Abgeordneten

Rees-Mogg legt sich einfach hin

Für Aufregung hatte am Dienstagabend auch der erzkonservative Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg von den Torys gesorgt. Er lehnte sich demonstrativ zurück. Als Geste der Verachtung werteten zahlreiche Abgeordnete, wie sich Rees-Mogg am Dienstagabend im Unterhaus auf einer der mit grünem Leder bespannten Bänke ausstreckte.

Einige Abgeordnete sprachen gar von einer Hilfe für die Tory-Rebellen. Rees-Moog habe es mit seinem Verhalten leichter gemacht, Johnson den Rücken zu kehren. Der „Telegraph“-Journalist Christopher Hope zitierte in einem Tweet einen nicht näher genannten Abgeordneten, dass Rees-Mogg ein guter „Rekrutierungsoffizier“ für die Tory-Rebellen gewesen sei, allerdings unfreiwillig. Rees-Mogg ist nicht irgendjemand – er ist der Leader of the House of Commons. Das ist eine Regierungsfunktion. Rees-Mogg ist damit quasi der Verbindungsmann der Regierung ins Unterhaus.

Abgeordneter Jacob Rees-Mogg
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Das Verhalten von Rees-Mogg stößt einigen sauer auf

Das Bild von Rees-Mogg, „sich am Arbeitsplatz niederzulegen", werde die Torys noch für Jahrzehnte verfolgen, schrieb der Independent."Die Verkörperung von Arroganz, Anspruchsdenken, Respektlosigkeit und Geringschätzung für unser Parlament“, schrieb die Labour-Abgeordnete Anna Turley in der Nacht auf Mittwoch auf Twitter. Rees-Mogg, der hochgewachsene Abgeordnete der Konservativen Partei, ist bekannt für sein elitäres, exzentrisches Auftreten.

Laute Zwischenrufe provozierten Lächeln

Noch während der Debatte kritisierte die grüne Abgeordnete Caroline Lucas Rees-Mogg und sagte, er mache sich „über drei Sitze breit und legt sich hin, als ob das, was er heute Abend hören muss, etwas sehr Langweiliges für ihn wäre“. Mehrere Abgeordnete forderten Rees-Mogg mit lauten Zwischenrufen auf, sich aufrecht hinzusetzen. Doch der grinste nur, schüttelte immer wieder den Kopf oder rückte seine Brille zurecht.

Einige nahmen die Situation mit Humor. „Ich erwarte fast, dass die Nanny mit einer Decke, einem Polster und einem Heißgetränk für den armen Mann in die Kammer marschiert!“, schrieb die Labour-Abgeordnete Angela Rayner auf Twitter. Handelte es sich um schlechte Manieren oder Überheblichkeit, fragte sich die Liberalen-Abgeordnete Sarah Wollaston.

Beispielloses Vorgehen

Das Vorgehen im britischen Parlament am Dienstagabend war beispiellos. Die Abgeordneten sahen sich zu diesem Manöver gezwungen, weil Johnson dem Parlament eine mehrwöchige Zwangspause verordnet hat, die bereits in der nächsten Woche beginnt. Die Abgeordneten sollen dann erst wieder am 14. Oktober zurückkehren.

Die Parlamentarier wollten verhindern, dass Großbritannien am 31. Oktober ohne Übergangsregeln aus der EU ausscheidet. Sie warnen vor Chaos, Nahrungsmittelknappheit und einem Konjunktureinbruch. Johnson will die Option eines ungeregelten Austritts aber offen halten, weil er hofft, die EU damit zu Konzessionen zu bewegen.

Einen Rückschlag musste Johnson auch gleich zu Beginn der parlamentarischen Auseinandersetzung einstecken: Der Tory-Politiker Phillip Lee wechselte – während Johnson am Rednerpult stand – aus Protest gegen dessen Brexit-Politik demonstrativ die Regierungsfraktion und nahm unter den Oppositionsabgeordneten Platz. Die Retourkutsche für ihn und 21 weitere Tory-Abgeordnete, die sich von Johnson abwandten, kam mit dem Parteiausschluss wenig später. Er sei per SMS aus der Partei ausgeschlossen worden, teilte einer der Betroffenen, Rory Stewart, mit.

Erste Klage gegen Zwangspause abgelehnt

Das oberste schottische Zivilgericht lehnte unterdessen eine Klage gegen die von Johnson erwirkte mehrwöchige Zwangspause des britischen Parlaments ab. Das berichtete die Nachrichtenagentur PA am Mittwoch aus dem Gerichtssaal in Edinburgh. Geklagt hatten etwa 75 Parlamentarier. Sie sehen in der von Johnson erwirkten wochenlangen Schließung eine unzulässige Einschränkung des Parlaments. Ähnliche Klagen wurden auch vor Gerichten im nordirischen Belfast und in London eingereicht.

Wie geht es weiter mit dem Brexit?

ORF-London-Korrespondentin Eva Pöcksteiner erklärt, welche die nächsten Schritten und wie realistisch Neuwahlen in Großbritannien sind.

Am Donnerstag sollte der Fall vor dem High Court in der britischen Hauptstadt verhandelt werden. Ein letztinstanzliches Urteil dürfte aber am Ende der Supreme Court fällen. Der Klage in London hatte sich auch der frühere konservative Premier John Major angeschlossen.

Johnson fordert Neuwahlen

Im britischen Parlament stimmten die Abgeordneten mehrheitlich für einen Beschluss, der den Weg für ein Gesetz gegen einen „No Deal“-Brexit ebnet. Johnson kündigte umgehend einen Antrag auf Neuwahlen an.

EU weiter bereit zu Zusammenarbeit mit Johnson

Die EU-Kommission will weiter mit der Regierung von Johnson zusammenarbeiten. Trotz des jüngsten Hin und Her und obwohl Johnson die Parlamentsmehrheit verloren habe, habe Großbritannien eine Regierung, und man sei bereit, mit ihr zusammenzuarbeiten, sagte eine Kommissionssprecherin am Mittwoch. Johnson bleibe Ansprechpartner für Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.

Im Falle eines „No Deal“-Brexits will die EU besonders hart getroffenen Mitgliedsstaaten, Unternehmen und Arbeitnehmern mit bis zu 780 Millionen Euro helfen. Die Summe nannten EU-Beamte am Mittwoch. Das Geld soll aus zwei bestehenden Hilfsfonds kommen. Diesem Vorschlag der EU-Kommission müssten das Europaparlament und die Mitgliedsstaaten allerdings noch zustimmen.

Die britische Regierung kündigte unterdessen zur Bewältigung der Brexit-Folgen zusätzliche Ausgaben in Höhe von zwei Milliarden Pfund (rund 2,2 Mrd. Euro) an. Finanzminister Sajid Javid werde am Mittwoch vor dem Unterhaus verkünden, dass die zusätzlichen Mittel im Jahr nach dem EU-Austritt ausgegeben werden sollen, so die britische Regierung.