Ausschnitt von Haus mit Vorarlberger Schindelfassade
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Alles „ghörig“ im Ländle?

Boom, teures Wohnen und „uns reicht’s“

Glänzende Wirtschaftszahlen, garniert mit Rekorden im Export und Sommertourismus, Vorzeigeunternehmen, die auf Expansion und den Standort Vorarlberg setzen, und eine auf niedrigem Niveau eingependelte Arbeitslosigkeit. Es läuft gut im Ländle, „unglaublich gut“, heißt es gegenüber ORF.at, „aber“: Was fehlt, ist finanzierbarer Grund, und das ist in einem Land der Häuslbauer ein fundamentales Problem. Es rumort aber auch anderswo – etwa beim Thema Asyl, wo es Richtung Bund heißt: „Uns reicht’s.“

Ausgangspunkt einer auf diesen Slogan getauften Protestbewegung waren Ende des Vorjahres zwei Abschiebefälle, die in Vorarlberg nachhaltig die Wogen hochgehen ließen. Über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurden die Sonntagsdemos, mit denen „uns reicht’s“ nun auch den Wahlkampf begleitet. Als bisher einzigartig bezeichnen die Organisatoren gegenüber ORF.at, dass Menschen aus „wirklich allen Bereichen“ gemeinsam „für ein demokratisches und menschliches Miteinander“ auf die Straße gehen.

Unterstützer finden sich quer durch alle Altersgruppen, gesellschaftlichen Schichten und politischen Lager. Dass mit Klaus Begle ausgerechnet ein ÖVP-Lokalpolitiker hinter der ersten, am 11. November in Hohenems organisierten Sonntagsdemo stand, sorgte genauso für Erstaunen wie nur kurz darauf eine Rede beim Lehrlingsball der Vorarlberger Industrie. Mit Getzner-Textil-Chef Georg Comploj kritisierte damals ein hochrangiger Vertreter der Vorarlberger Wirtschaftskammer die von der ÖVP-FPÖ-Regierung forcierte Abschiebepraxis scharf und kanzelte die Vorgänge rund um die Abschiebung von in Ausbildung befindlichen Flüchtlingen als „unqualifiziert“ ab.

Flyer von Menschenrechtsveranstaltung Love und Peace im Dornbirner Rathaus
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Erste Veranstaltung nach einer kurzen Sommerpause: Das von „uns reicht’s“ mitveranstaltete Love-&-Peace-Festival wurde auch im Dornbirner Rathaus beworben

„Hat uns auch als Bevölkerung gutgetan“

Das Thema hat in Folge bundesweit Einzug in den laufenden Wahlkampf zur Nationalratswahl am 29. September gehalten. Die Dornbirner Bürgermeisterin Andrea Kaufmann (ÖVP) bestätigt gegenüber ORF.at „einen kleinen Schwenk“ – es sei demnach nachvollziehbar, dass man Betroffenen ermöglicht, die Lehre abzuschließen, „damit diese zumindest einen Abschluss haben“.

Außer Frage stellte Kaufmann die hinter „tragischen Abschiebefällen“ stehende Grundproblematik – nämlich die viel zu langen Asylverfahren. Mit dem Ruf nach einem Mitspracherecht von Gemeinden gibt es dann noch eine weitere Parallele zu den Forderungen der Sonntagsdemos. So wie „uns reicht’s“-Sprecher Oswald Wolf hebt auch Kaufmann die Vorarlberger Vorgangsweise in der Flüchtlingskrise als vorbildhaft hervor: „Einzigartig“ für Österreich sei demnach, dass sich alle Gemeinden zur Aufnahme von Flüchtlingen bereiterklärt hätten – dazu komme ein bis heute anhaltendes großes Engagement der Zivilbevölkerung.

Die Rede ist von einer „unglaublich positiven Welle“. Diese habe „uns auch als Bevölkerung gutgetan“. Auch bezüglich der Zahl der Flüchtlinge, die von den Gemeinden aufgenommen worden seien, habe Kaufmann zufolge alles „gut geklappt“. Dazu müsse man der Dornbirner Bürgermeisterin zufolge allerdings auch sagen: „Man hält das nicht ins Uferlose aus“ – schließlich gelte es auch zu verhindern, dass die Stimmung „kippt“. In diesem Zusammenhang auf den tödlichen Messerangriff in der Bezirkshauptmannschaft Dornbirn angesprochen, spricht die Bürgermeisterin von einem tragischen Einzelfall – und das habe auch die Bevölkerung so eingeordnet.

Die „Vorarlberger Art“

Der bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise erfolgte „Kraftakt“ passt ins Bild einer Vorarlberg immer wieder zugeschriebenen Besonderheit. „Handfest, pragmatisch und trotzdem bereit, eingetretene Pfade zu verlassen“, das sei, wie im Wirtschaftskammer-Magazin „ThemaVorarlberg“ zu lesen, landestypische „Vorarlberger Art“.

Straße in Dorbirn
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Der Umgang mit der Flüchtlingskrise legt nahe: In Vorarlberg wird Pragmatismus großgeschrieben

Hinter dem im Vergleich zu anderen Teilen Österreichs weit positiveren Zugang zum Thema Migration stünden in Vorarlberg nicht zuletzt aber auch konservativ-katholische und – Stichwort Facharbeitermangel – wirtschaftliche Motive, wie die Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle von der Fachhochschule Klagenfurt in Erinnerung ruft.

Ausländer aus „Innerösterreich“

Ob aus Gebieten des heutigen Tschechien und dann aus dem damals ebenfalls noch zu Österreich gehörenden italienischen Trentino – Arbeitsmigration gab es in Vorarlberg bereits vor dem Ersten Weltkrieg. 1939 folgten dann Optanten aus Südtirol, in den 1950er und 1960er Jahren verstärkt Zuwanderer aus Kärnten, der Steiermark und Oberösterreich und in den 1970ern dann Gastarbeiter aus der Türkei, aber auch Pflegepersonal aus den Philippinen.

„Die Herkunft mag wichtig sein, wahrscheinlich aber eine Spur weniger wichtig als in anderen Teilen Österreichs“, merkt dazu der an der Universität Wien und der Fachhochschule Vorarlberg lehrende Politologe Thomas Schmidinger an: Schließlich seien ja selbst die „Innerösterreicher“ – „wie der Vorarlberger und die Vorarlbergerin alle östlich des Arlbergs zu nennen pflegte“ – auch schon als Ausländer betrachtet worden, „konnten aber trotz gesellschaftlicher Diskriminierung nicht von ihrer Integration in die Vorarlberger Gesellschaft abgehalten werden“.

Die Kriterien gesellschaftlicher Akzeptanz seien in Vorarlberg „wirtschaftlicher Erfolg und unauffälliges Verhalten im Alltag“, womit auch Flüchtlinge, Migranten und Migrantinnen in Vorarlberg so lange willkommen seien, „solange sie ‚Ghörige‘ sind, also sich genauso zu Tode arbeiten, wie der Vorarlberger und die Vorarlbergerin selbst, um mit dem Ersparten dann irgendwann ein ersehntes ‚Hüsle‘ (vorarlbergerisch für Haus, Anm.) bauen zu können“.

Blick über Dornbirn zum Bodensee
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Blick vom Dornbirner Hausberg Karren Richtung Bodensee

„Schaffa, schaffa“ ohne „Hüsle baua“?

Schmidinger zielt damit auch auf ein in Vorarlberg nach wie vor hochgehaltenes, allerdings zunehmend schwankendes Lebenskonzept. „Jeder, der will, findet Arbeit“, sagt dazu ein auf dem Dornbirner Hausberg Karren befragter Pensionist, der auf Nachfrage ergänzt: „Dass die Kosten im Immobilienbereich steigen und zwar unverschämt, das ist sicher ein Problem.“

Somit erscheint zwar die Grundlage für das in Vorarlberg geflügelte „schaffa, schaffa“ (arbeiten, arbeiten), weiter gegeben – allerdings bleibt der meist im gleichen Atemzug genannte Hausbau nun immer öfter aus. Vor allem im Rheintal, dem nach Wien und Graz am dichtesten besiedelten Ballungsraum Österreichs, wird erschwinglicher Grund immer mehr zur Mangelware – und damit zu einem der großen Wahlkampfthemen.

Das Thema beschäftigt auch die Besucher auf dem Dornbirner Wochenmarkt: Über 8.000 hochpreisige Wohnungen stünden leer, weiß dazu ein Verkäufer der Vorarlberger Straßenzeitung „Marie“ zu berichten. Dass sich dieser darüber nicht empört, erklärt ein Passant später damit, dass es in Vorarlberg wohl „eine gewisse Grundzufriedenheit“ gebe.

Baugrund-Gesucht-Schild in Vorarberg
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Finanzierbarer Baugrund wird im Vorarlberger Rheintal zunehmend zur Mangelware

Volksabstimmung über Betriebserweiterung

Das Thema Raumplanung lässt in Österreichs zweitkleinstem Bundesland dennoch immer wieder die Wogen hochgehen. 2017 etwa mit dem erstmals „von unten“ initiierten Bürgerrat Vorarlbergs mit dem Thema „Umgang mit Grund und Boden in Vorarlberg“. Derzeit in Ludesch, wo im November nun erstmals per Volksabstimmung über eine Betriebsansiedlung, konkret eine Getränkeabfüllhalle der Firma Rauch, in einer an sich geschützten Vorarlberger Landesgrünzone entschieden wird.

Eine weitere Bürgerinitiative verweist in diesem Zusammenhang auch auf den erst im Juli für Vorarlberg ausgerufenen Klimanotstand: Der rasante Verbrauch von Grünflächen sei nicht mit den Klimazielen des Landes vereinbar. Vorarlberg ist das erste Bundesland, das mit dieser Vorgangsweise alle Gesetze, Verordnungen und Förderungen auf ihre Vereinbarkeit mit Energieautonomie und Klimaschutz überprüfen will. Damit ist man nicht zum ersten Mal Vorreiter in Sachen Umweltschutz: Neben einer besonders strikten Mülltrennung sei hier etwa Vorarlbergs dichtes Netz im öffentlichen Verkehr hervorgehoben.

Ausflugsschiffe am Bodensee
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Ausflugsschiffe auf dem Bodensee

Autobahn-Langzeitposse

Als „riesiges Thema“ spielt der öffentliche Verkehr nach Angaben aus dem Dornbirner Rathaus schließlich auch bei der weiteren Entwicklung der gesamten Bodensee-Region eine zentrale Rolle. Im Fokus stehe dabei die Schiene, es gehe aber auch um eine verstärkte Nutzung des Bodensees, und zwar abseits von Ausflugsschiffen. Leidig erscheint indes der seit den 1980er Jahren diskutierte und nach wie vor ausstehende Anschluss der österreichischen an die Schweizer Autobahn. Es gebe zwar ein „ständiges Verhandeln, ständiges Bemühen“, man habe aber „keine Ahnung“, wann bzw. ob es auch zum Autobahnanschluss kommen wird.

100 Jahre „Kanton Übrig“

Vor 100 Jahren wollten die Vorarlberger Schweizer werden. Am 11. Mai 1919 sprachen sich 80 Prozent der Abstimmenden für Verhandlungen mit der Schweiz über einen Beitritt zur Eidgenossenschaft aus – mehr dazu in vorarlberg.ORF.at.

Kopfschütteln über dieses „ökonomische und ökologische Ärgernis“ kommt vom langjährigen Leiter des Wirtschaftsressorts der "Neuen Zürcher Zeitung „NZZ“), Gerhard Schwarz. Dieser ortet gegenüber „ThemaVorarlberg“ aber auch abseits der fehlenden österreichisch-schweizerischen Autobahnklammer verkehrsrelevante Problemfelder, wie die „unbefriedigende“ Anbindung an die großen europäischen Verkehrsachsen: Obwohl „inmitten dieser Städte“ gelegen, sei Vorarlberg dennoch von Mailand, Zürich, München und auch Salzburg „zu weit entfernt“.

Es ist Jammern auf hohem Niveau, denn Vorarlberg hat laut Schwarz vor allem eines: „sich hervorragend entwickelt“. In der Schweiz höre er aus diesem Grund auch gelegentlich, dass es seinerzeit, nach dem Ersten Weltkrieg, ein Fehler gewesen sei, Vorarlberg nicht in die Schweiz aufzunehmen. Das sei freilich nicht ganz ernst gemeint, wie Schwarz in „ThemaVorarlberg“ zunächst relativiert: Ein größeres Zeichen des Respekts und der Sympathie könne er sich von Schweizer Seite aber nicht vorstellen.

Öfter in St. Gallen als in Tirol

Enge Kooperation mit dem benachbarten Ausland, etwa im Rahmen der Vierländerregion Bodensee und damit „einer der dynamischsten Wirtschaftsregionen Europas“, gilt indes auch als eines der großen Erfolgsrezepte des Standorts Vorarlberg. Der traditionell Richtung Westen ausgerichtete Fokus erklärt sich mit Blick auf das zwischen Vorarlberg und Restösterreich liegende Arlberg-Massiv dann aber auch wieder von selbst. Zudem ist die Grenze zur Schweiz, Deutschland und Liechtenstein viermal so lang wie jene zum Bundesland Tirol.

Es sei schon bezeichnend, dass es während ihrer Zeit als Landesrätin mehr Austauschtreffen mit St. Gallen und der Regierung in Liechtenstein als mit Tirol und Salzburg gegeben habe, sagt dazu passend Dornbirns Bürgermeisterin Kaufmann. Mit den beiden genannten Bundesländern gebe es nichtsdestoweniger sehr wohl auch eine „sehr intensive Zusammenarbeit“ und auch mit dem Bund sei die Gesprächsbasis „sehr gut“.

Plakat und Passantin mit Regenschirm in Dornbirn
ORF.at/Peter Prantner

„Ghörig“

Einer der großen Unterschiede zwischen Vorarlberg und dem Rest Österreichs ist die Sprache. In Vorarlberg werden der alemannischen Sprachgruppe zugehörige Dialekte gesprochen. „luaga und losna“ bedeutet etwa „schauen und hören“, „ghörig“ steht für „gut“, „anständig“ oder auch „richtig“.

Wien sei, so Stainer-Hämmerle, aus Vorarlberger Sicht dennoch weit entfernt, und zwar nicht nur geografisch („mit dem Zug war und ist Paris schneller zu erreichen“) und sprachlich („Paradeiser und Faschiertes mögen die ‚Innerösterreicher‘ sagen, aber sicher nicht alle Österreicher“), sondern auch bei der politischen Kultur („Hier prägt die Nähe zur Schweiz, siehe Landesverfassung oder auch die Kultur der Bürgerräte“).

Erstes Zeugnis für ÖVP-Grünen-Koalition

Dazu komme eine wohl noch immer große Skepsis gegenüber dem „Wasserkopf Wien“. Stainer-Hämmerle verweist in diesem Zusammenhang auf den einst „klaren Anti-Wien-Kurs“ bei den „Vorarlberger Nachrichten“ („VN“). Das rote Wien habe im traditionell schwarzen Vorarlberg also jahrzehntelang als Feindbild gedient, ähnlich wie in vielen Ländern derzeit die EU – die in Vorarlberg wiederum einen in Österreich wohl beispiellos guten Ruf genießt.

Schmidinger sieht indes im Fehlen einer einflussreichen Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung die aus politikwissenschaftlicher Sicht „mit Sicherheit“ auffallendste Besonderheit Vorarlbergs. „Was ein ‚ghöriger Vorarlberger‘ war, war bis in 1980er Jahre hinein schwarz und katholisch.“ Am Ende des 20. Jahrhunderts habe sich das langsam aufgeweicht, und irgendwann „konnte man auch ‚ghörig‘ sein und grün“. Nun geht die erste Vorarlberger ÖVP-Grünen-Koalition zu Ende und wartet bei der am 13. Oktober auf das Zeugnis der Wählerinnen und Wähler.

Fotostrecke mit 3 Bildern

Grafik zeigt die Ergebnisse der EU-Wahl 2019 in Vorarlberg und Österreich
Grafik: ORF.at; Quelle: Land Vorarlberg; BMI
Grafik zeigt die Ergebnisse der Nationalratswahl 2017 in Vorarlberg und Österreich
Grafik: ORF.at; Quelle: Land Vorarlberg; BMI
Grafik zeigt die Ergebnisse der Landtagswahl 2014 in Vorarlberg
Grafik: ORF.at; Quelle: Land Vorarlberg

Absage an Zusammenlegung von Wahlen

Für Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) sei der Bruch der ÖVP-FPÖ-Koalition auf Bundesebene möglicherweise eine Erleichterung gewesen, merkt Schmidinger mit Verweis auf den „permanenten Spagat“ zwischen dem grünen Koalitionspartner im Land und der Bundes-ÖVP, aber auch der von „nicht wenigen Funktionären und Mitgliedern lokaler ÖVP-Ortsgruppen“ unterstützten Sonntagsdemos dazu an: Immerhin habe sich Wallner damit die vor den Landtagswahlen zunehmend von Vorarlberger ÖVP-Basis eingeforderte Positionierung zwischen Türkis und Schwarz erspart.

Ob sich hier auch einer der Gründe findet, warum in Vorarlberg die Landtagswahl nicht mit der Nationalratswahl zusammengelegt wurde, bleibt offen. Offiziell wird auf wahlorganisatorische Gründe verwiesen. Dahinter dürfte auch die Sorge vor einer Wahlanfechtung stehen, wie Stainer-Hämmerle mit einem Verweis auf die Erfahrungen bei der Bundespräsidentschaftswahl nahelegt. Man habe auch in Vorarlberg nun „befürchtet, dass es aufgrund der Abweichungen beim vorgeschriebenen Ablauf der Wahlen zu Schwierigkeiten kommen könnte. Was beweist, dass es dringend ein für alle Wahlgänge praktikables Wahlgesetz in Österreich braucht.“