Der britische Staatsminister Michael Gove und Premierminister Boris Johnson
Reuters/Jessica Taylor/UK Parliament
„No Deal“-Brexit

London veröffentlicht „Chaos“-Papier

Auf Druck des Parlaments hat die britische Regierung am späten Mittwochabend nun Dokumente mit Szenarien im Fall eines „No Deal“-Brexits vorgelegt. Deutlich wird darin: Die britischen Vorbereitungen auf die Folgen eines EU-Austritts ohne Abkommen sind „auf einem niedrigen Niveau“.

Schon im August waren die Dokumente zur „Operation Yellowhammer“, die Szenarien im Fall eines „No Deal“-Brexit durchspielen, an Medien durchgesickert. Für Aufsehen sorgte nun, dass offenbar die Titel geändert wurden. Hieß es vor wenigen Wochen noch „Grundlegendes Szenario“, werden die nun veröffentlichten Papiere mit „Planungsannahmen für den schlimmsten Fall“ betitelt, berichtete die „Sunday Times“-Journalistin Rosamund Urwin auf Twitter.

Durch die geänderte Überschrift könnte sich die Opposition in ihrer Vermutung bestätigt sehen, dass die Regierung die möglichen Folgen eines ungeregelten EU-Austritts am 31. Oktober herunterspielt. Staatssekretär Michael Gove, der im Kabinett von Premierminister Boris Johnson für die „No Deal“-Brexit-Planung zuständig ist, betonte am Mittwoch, das Papier sei lediglich ein Szenario für den schlimmsten Fall und keine Vorhersage der wahrscheinlichen Entwicklung. Auch solle es noch aktualisiert werden.

Engpässe und Unruhen erwartet

Auch Johnson versuchte nach Veröffentlichung des Papiers zu beruhigen. Es handle sich um eine Prognose für den schlimmstmöglichen Fall. Er gehe aber davon aus, dass es nicht so kommen werde und die Wirtschaft vorbereitet sei. In dem sechsseitigen Dokument wird unter anderem vor Protesten und Störungen der öffentlichen Ordnung gewarnt, die eine „erhebliche Menge“ an Polizeikräften in Anspruch nehmen würden. Außerdem könnte es aufgrund langer Wartezeiten am Ärmelkanal zu Lieferengpässen bei Medikamenten kommen.

In der Folge könnten Krankheiten bei Tieren ausbrechen, die auch die menschliche Gesundheit beeinträchtigen könnten. Auch bestimmte Lebensmittel dürften dem Dokument zufolge knapp werden, verschlimmert durch Hamsterkäufe. In Teilen des Landes könnte es zu Treibstoffengpässen kommen.

Die genossenschaftlich organisierte Supermarktkette Co-Op teilte mit, sie habe zusätzliche Lager vorbereitet, um Vorräte beispielsweise an Toilettenpapier und Wasser anzulegen. Bei Frischwaren könne es zu Engpässen kommen, und Obst könnte teurer werden. Britische Einzelhändler müssten Obst verstärkt per Flugzeug importieren, so die sechstgrößte Supermarktkette.

„Unangemessene“ Forderung

Mit den Veröffentlichungen bleibt die Regierung weit hinter den Forderungen des Parlaments zurück. Die Abgeordneten hatten am Montag, kurz vor Beginn einer von Johnson auferlegten fünfwöchigen Zwangspause, die Herausgabe sämtlicher Dokumente zur „No Deal“-Planung verlangt. Zudem forderten sie die komplette Korrespondenz dazu an, inklusive E-Mails und Kurznachrichten wichtiger Regierungsmitarbeiter und Berater.

Chaos nach Brexit möglich

Interne Dokumente, die die britische Regierung veröffentlicht hat, sagen schlimmstenfalls Chaos voraus.

Gove wies die Forderung als „unangemessen und unverhältnismäßig“ zurück. Die Regierung müsse die Privatsphäre ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schützen. Hintergrund der Forderung nach der Korrespondenz war die Vermutung, Johnson wolle das Parlament mit der Zwangspause schlicht kaltstellen, um einen „No Deal“-Brexit durchziehen zu können.

Johnson droht weiter mit Austritt ohne Abkommen

Der Premier droht offen damit, sein Land ohne Abkommen aus der EU zu führen, sollte sich Brüssel nicht auf seine Forderungen nach Änderungen am Austrittsabkommen einlassen. Dabei hat das Parlament inzwischen ein Gesetz verabschiedet, das ihn zum Beantragen einer Verlängerung in Brüssel zwingt, sollte nicht rechtzeitig ein Deal mit der EU zustande kommen.

EU-Brexit-Unterhändler Michel Barnier
Reuters/Francois Lenoir
EU-Brexit-Unterhändler Barnier informiert am Donnerstag das EU-Parlament

Am Donnerstag sprach der europäische Brexit-Unterhändler Michel Barnier mit den Spitzen des EU-Parlaments über den Stand der Gespräche über den britischen EU-Austritt. Laut EU-Parlamentspräsident David Sassoli machte die britische Regierung bisher keinen neuen Vorschlag für die Modalitäten des Austritts aus der EU. Das EU-Parlament sei zu einer weiteren Verschiebung des Austrittsdatums bereit, falls London dafür gute Gründe nenne, wiederholte Sassoli die Position der EU: „Leider zeigen die Signale, die wir bekommen, nicht, dass es irgendeine Initiative gibt, die die Verhandlungen wieder eröffnen könnte.“

Gericht urteilte gegen Parlamentspause

Unklar ist auch, wie es nun mit der von Johnson angeordneten Zwangspause des Parlaments weitergeht. Am Mittwoch erklärte ein schottisches Gericht diese bis 14. Oktober vorgesehene Pause für unrechtmäßig. Laut Urteil will Johnson damit tatsächlich der Kontrolle durch das Parlament entgehen. Das Gericht wolle die Zwangspause für „null und nichtig“ erklären.

Eine Sprecherin von Parlamentspräsident John Bercow teilte mit, es liege in der Zuständigkeit der Regierung, die Zwangspause vorzeitig zu beenden. Oppositionsabgeordnete riefen die Regierung dazu auf, das Parlament umgehend wieder einzuberufen. Die Regierung steigt auf diese Forderung nicht ein und will zunächst beim britischen Höchstgericht Berufung einlegen. Dort soll am Dienstag über die Angelegenheit verhandelt werden.