Menschen am Strand bei Tel Aviv
Reuters/Corinna Kern
Israel wählt

Alles hängt an der Mobilisierung

Nicht nur in Österreich wird vorzeitig wieder gewählt – auch in Israel finden am Dienstag vorgezogene Neuwahlen statt. Das Land ist tief gespalten – über die künftige Richtung wird genau ein Faktor entscheiden: welches der zwei großen Lager mehr Wählerinnen und Wähler mobilisieren kann.

Bis Mittag zeichnete sich tatsächlich eine spürbar höhere Wahlbeteiligung ab. Laut der Tageszeitung „Haaretz“ gaben in den ersten Stunden so viele Menschen ihre Stimme ab wie seit 1984 nicht mehr.

Bereits die Wahl im April war eine vorgezogene Neuwahl – ausgelöst durch den Koalitionsaustritt von Avigdor Liebermans Partei „Unser Haus Israel“. Deren Wählerbasis sind überwiegend die vielen russischen Immigranten. Er brachte damit Ende 2018 die Rechtsregierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu Fall. Netanjahu, der mittlerweile den legendären Staatsgründer David Ben-Gurion als längstdienenden Regierungschef abgelöst hat, ging mit seiner Likud-Partei zwar als stärkste Kraft aus der April-Wahl hervor.

Es gelang Netanjahu, dem wegen Korruptionsvorwürfen eine Anklage droht, allerdings nicht, eine Koalition zu bilden. Das nationale, rechtsreligiöse Lager hatte zwar eine Mehrheit – allerdings wurde es nicht geschafft, einen Kompromiss in einem der größten innerisraelischen politischen Minenfelder zu finden: dem Wehrdienst für Ultraorthodoxe, dem sich die religiösen Parteien vehement widersetzen. Nach einem Höchstgerichtsurteil ist ein diesbezügliches Gesetz aber längst überfällig.

Wahlplakate in Israel
AP/Oded Balilty
Das Rennen um Platz eins und den Regierungsbildungsauftrag zwischen Netanjahu und Ganz ist eng.

Kleinparteien, Bündnisse und Lager

Israels politische Landschaft ist – nicht zuletzt aufgrund der vergleichsweise niedrigen Sperrklausel für den Einzug in die Knesset (3,25 Prozent) – traditionell in viele, oft sehr kleine, Parteien zersplittert. Diese schließen in der Regel vor Wahlen Bündnisse. Und diese sind wiederum generell dem linken oder rechten Lager zuzuordnen. So wird das Mitte-rechts-Lager vom Likud angeführt. Das Mitte-links-Lager, jahrzehntelang von der einst mächtigsten Partei, der Arbeitspartei, dominiert, wird von dem im Jänner gegründeten Bündnis Kachol-Lavan (Blau-Weiß, in Anspielung auf die israelische Flagge, Anm.) unter dem Ex-Armeechef Benni Ganz geführt.

Die religiösen Parteien wiederum waren traditionell die Mehrheitsbringer – und zwar für linke wie rechte Regierungen. In den letzten Jahren gab es aber auch im religiösen Lager einen deutlichen Rechtsrutsch – so wie in der israelischen Gesellschaft insgesamt. Neu bei der Wahl am Dienstag ist, dass sich Lieberman mit Israel Beitenu im Wahlkampf ebenfalls der klaren Zuordnung zum Rechtslager entzog. Lieberman gilt damit als der mutmaßliche Königsmacher – egal wer Dienstagabend voranliegt: Netanjahu oder Ganz.

Wahlplakate in Israel
Reuters/Amir Cohen
Erwartet wird, dass Lieberman das Zünglein an der Waage im Koalitionspoker wird.

Wahl zwischen 31 Listen

Der Regierungschef wird nicht direkt gewählt. 31 Listen treten an. Der Chef der stärksten Partei erhält traditionell den Regierungsbildungsauftrag. Nötig ist eine Mehrheit von 61 der 120 Sitze im Parlament, der Knesset.

Aggressives Werben im eigenen Lager

In den letzten Wochen haben sowohl Netanjhau als auch Ganz vor allem versucht, die eigenen Reihen zu schließen und innerhalb ihres jeweiligen Lagers Wählerinnen und Wähler der kleineren Parteien mit dramatischen Aufrufen für sich zu gewinnen. In diesem Kontext ist etwa auch Netanjahus Versprechen, im Fall seiner Wiederwahl Teile des Westjordanlands annektieren zu wollen, zu verstehen. Das war ein unverblümtes Keilen um Stimmen bei Siedlern und ideologisch rechts vom Likud Stehenden. Ganz und sein Partner Jair Lapid wiederum warben aggressiv um Stimmen der Arbeitspartei und des Bündnisses „Das Demokratische Lager“, das vom Ex-Premier Ehud Barak angeführt wird.

Das Abwerben von Stimmen von anderen Parteien aus dem eigenen Lager ist allerdings riskant: Es kann dazu führen, dass die Motivation, wählen zu gehen, sinkt und das eigene Lager unterm Strich geschwächt wird. Vor allem, wenn Kleinparteien dann den Sprung über die Sperrklausel verpassen, bedeutet das deutlich weniger Mandate fürs eigene Lager. Kachol-Lavan etwa fuhr genau aus diesem Grund diese Strategie in den letzten Tagen vor der Wahl zurück.

Die entscheidende Kennzahl

Die Wählerwanderung zwischen dem Links- und Rechtsblock ist angesichts der Gespaltenheit der israelischen Gesellschaft gering. Entscheidend ist daher, möglichst viele Wähler des eigenen Lagers dazu zu bringen, tatsächlich auch ihre Stimme abzugeben – und nicht nur den arbeitsfreien Tag zu genießen. Traditionell sind es zwei große Wählergruppen, bei denen die Wahlbeteiligung besonders niedrig ist: die religiösen Juden und die große Minderheit der israelischen Araber.

Bei Letzteren ging im April nicht einmal jeder Zweite zur Wahl. Das Potenzial ist damit – in der Theorie – entsprechend groß. Nicht von ungefähr sorgte Netanjahu bereits bei der Wahl 2015 mit der – unrichtigen – Warnung, die israelischen Araber würden in Massen zu den Wahlurnen strömen, für eine letzte Mobilisierung der eigenen Wählerschaft – via Facebook während laufender Wahl.

Wahlzettel in Israel
APA/AFP/Menahem Kahana
Wähler wählen den Zettel „ihrer“ Partei – jede hat ein Buchstabenkürzel – und stecken ihn ins Wahlkuvert

6,4 Mio. wahlberechtigt

Knapp 6,4 Millionen der insgesamt neun Millionen Staatsbürger Israels sind stimmberechtigt. Etwa 20 Prozent der Bevölkerung sind Araber. Im April lag die Wahlbeteiligung bei rund 68 Prozent. Wegen Wahlmüdigkeit könnte sie diesmal etwas niedriger ausfallen.

Schicksals- und Alltagsprobleme

Jede Wahl ist für Israel, das nur mit zwei Nachbarn – Jordanien und Ägypten – einen Friedensvertrag hat, eine Schicksalswahl: Der Konflikt mit den Palästinensern ist in den Augen der Israelis eine ständige Bedrohung, noch viel mehr aber der Iran, der sich mit der Terrormiliz Hisbollah und dem Einsatz in Syrien aus israelischer Sicht direkt an der Nordgrenze des Landes festgesetzt hat. Einen überzeugenden Pfad zur Lösung für diese existenziellen Fragen bietet übrigens keines der beiden Lager.

Für viele Israelis gibt es in diesen Bereichen gefühlt derzeit auch wenig Aussicht auf echte Fortschritte. Gesellschaftspolitische Fragen – ob die Wohnkosten, soziale Probleme, Migration oder das Zusammenleben Säkularer und Religiöser – könnten daher für viele Israelis mindestens ebenso wichtige Kriterien für die Entscheidung in der Wahlkabine sein.

Rivlin will weitere Wahl möglichst verhindern

Präsident Reuven Rivlin gab bereits am Vormittag seine Stimme ab und rief dabei alle Israelis auf, ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Rivlin dürfte eine zentrale Rolle nach der Wahl einnehmen. Er bestimmt, wer den Auftrag zur Regierungsbildung erhält. Das ist üblicherweise der Vorsitzende der größten politischen Kraft. Dieser hat dann vier Wochen Zeit, eine Koalition zu bilden, kann aber danach noch zwei Wochen Verlängerung beantragen. Mit einer neuen Regierung wird frühestens Ende Oktober gerechnet.

Rivlin sagte nach Angaben der Zeitung „Maariv“ angesichts der möglichen Pattsituation: „Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um eine weitere Wahl zu verhindern.“ Wer immer Erster wird – Netanjahu oder Ganz –, wird es schwer haben, die nötige Mehrheit zu finden. Spekuliert wird auch über eine mögliche „Große Koalition“ von Likud und Kachol-Lavan, bei der sich wiederum die Frage stellt, wer Regierungschef wird. Eines von Netanjahus Zielen dürfte es sein, angesichts der ihm nach der Wahl drohenden Korruptionsanklage ein Amnestiegesetz durch die Knesset zu bringen, das im Straffreiheit sichert.