Kind liest Comic
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Lesen lernen

Comics vs. „richtige“ Bücher

„Comics dürfen nur dann ausgeliehen werden, wenn auch ein ,richtiges‘ Buch mitgenommen wird“ – diese Regel gibt es in so manchen Volksschulklassen beim gemeinsamen Büchereibesuch. Doch nicht nur Lehrende, auch Eltern sind bei der Frage, ob Comics sich genauso zum Lesenlernen eignen wie textlastige Bücher, oft unsicher. Dabei haben Comics gerade in der Zeit des Lesenlernens viele Vorteile.

„Es gibt nur zwei Argumente, die gegen das Lesenlernen mit Comics sprechen“, sagt Peter Rinnerthaler von der Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur (STUBE): „Schlechte Comics und Comics, die das Kind überfordern.“ Aber das gelte genauso für herkömmliche Kinderbücher. Dennoch halte sich die althergebrachte Meinung, Comics seien Schund, erstaunlicherweise bis heute – „zu Unrecht“.

„Tschack“, „Bumm“, „Bäng“

So sei etwa das Vorurteil des „Einsatzes mangelhafter Sprachformen“ – Stichwort: „Tschack“, „Bumm“, „Bäng“ – schlichtweg nicht korrekt. „Die Vielfalt an Sprachformen ist in Comics extrem hoch“, so der Germanist gegenüber ORF.at: „Die Erzählungen werden nicht nur in den Sprechblasen mit wenig Raum umgesetzt, sondern auch an anderen Stellen innerhalb der Doppelseiten. In Comics findet man einen extrem innovativen Umgang mit Sprache – zum Beispiel durch den kreativen Umgang mit Typografie“.

Comic „Marsupilami“
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Das erste „Marsupilami“-Comic des belgischen Zeichners Andre Franquin erschien 1952

Den hohe Bildanteil von Comics hebt Rinnerthaler als positiv für den Prozess des Lesenlernens hervor, denn der Umstieg vom Bilderbuch zu Romanen mit wenig bis gar keinem Bildanteil sei für lesende Kinder manchmal hart. „Das Comic in seiner Hybridform kann ein hilfreicher Übergang sein, weil schon mehr Text als beim Bilderbuch zu finden ist, auf die Bildebene aber noch nicht ganz verzichtet werden muss.“

„Neue Ära in der Lesebiografie“

Und auch in entwicklungspsychologischer und literarischer Sicht, könne das Comic das Medium eines Übergangs sein: „In der Lesebiografie des Kindes kann das Comic eine neue Ära einleiten. Ein Schritt weg vom Bilderbuch, das das Kind mit der ritualisierten Vorlesezeit mit den Eltern verbindet. Ein Schritt weg von Kinderbüchern, die die Aufgabe des Lesenlernens übernehmen und oft nur wenig ,gute Geschichten‘ anbieten. Ein Schritt in eine völlig neue Richtung – mit Erzählungen, die das Kind mitnehmen in eine faszinierende Welt, die die Erwachsenen Literatur nennen.“

Dass Comics noch immer oft von „richtigen“ Büchern unterschieden werden, wundert Rinnerthaler nicht. Grund für diese Ressentiments sei schlicht Unwissen. „Ein gutes Gegenmittel ist die einfache Frage: ,Welche Comics kennen Sie denn?‘ Wird dann lediglich auf die ‚Lustigen Taschenbücher‘ verwiesen, kann man durchaus von einer unqualifizierten Aussage sprechen.“

Mehrere Bände des „Lustigen Taschenbuchs“ im Regal
ORF.at/Romana Beer
Seit 1967 erscheinen die „Lustigen Taschenbücher“ – 528 Bände sind es bisher

Womit Rinnerthaler die „Lustigen Taschenbücher“ aus dem Entenhausen-Universum um Donald Duck und Micky Maus keinesfalls abwerten, sondern „auf das Phänomen der Vererbung abzielen“ möchte: Klassiker, die schon Eltern gerne gelesen haben, werden an Kinder weitergegeben. „Leider bleiben dadurch aktuelle Comics auf der Strecke, die die Lebensrealitäten, Mediengewohnheiten und Themen der Kinder der Gegenwart auf zeitgemäße Weise umsetzen.“

Seit Jahrzehnten beliebt: „Micky Maus“ und „Asterix“

Es wundert also kaum, dass etwa bei den Büchereien Wien Comics aus dem Entenhausen-Universum und „Asterix“ die mit Abstand gefragtesten sind. Der „Asterix“-Band „Gallien in Gefahr“ war 2018 jenes Comic, das in der Hauptbücherei und ihren 38 Zweigstellen, am häufigsten ausgeliehen wurde: nämlich 458-mal.

„Zu den zeitlosen Titeln gehörten aber auch ,Lucky Luke‘, ,Garfield‘, die ,Peanuts‘, ,Die Schlümpfe‘, ,Tim und Struppi‘ – alle diese Reihen sind ungebrochen beliebt bei den jungen Leserinnen und Lesern“, so Lisa Kollmer gegenüber ORF.at.

„Asterix“: „Gallien in Gefahr“ (Hintergrund andere Bände)
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„Asterix“ wurde 1959 von Autor Rene Goscinny und Zeichner Albert Uderzo erschaffen

Kollmer ist bei den Büchereien Wien für die Organisation des Ankaufs von Kindercomics durch die Zweigstellen zuständig. Um eine Vorauswahl zu treffen, liest sie Rezensionen, sichtet Verlagskataloge und recherchiert im Internet. Kollmers Liste, aus der die Zweigstellen auswählen, enthält letztlich „Titel, von denen man ausgehen kann, dass sie Selbstläufer sind, weil sie sowieso bekannt und beliebt sind, und Titel, die vielleicht eher ein Nischenangebot sind, aber die wir auf jeden Fall auch in unserem Angebot haben wollen“.

Rekord für „Lucky Luke“-Heft

„Kindercomics sind ein wichtiger Teil im Kinderbuchangebot der Büchereien Wien“, sagt Kollmer. Beim Angebot in den Büchereien sei man allerdings auch abhängig vom Angebot auf dem Markt. Und so freut es Kollmer, wenn Verlage sich entschließen, ältere Reihen, die jahrelang nicht lieferbar waren, neu aufzulegen – wie etwa „Die Schlümpfe“, „Marsupilami“ sowie „Clever & Smart“. Denn auch wenn die Leserinnen und Leser sehr sorgfältig mit den Büchern umgingen, müssten sie doch regelmäßig ersetzt werden – „vor allem bei den Reihen, die sehr beliebt sind“.

Denn: Man sehe es einem Comicband an, wenn er sehr häufig ausgeliehen wird. Wie etwa der „Lucky Luke“-Band „Die Daltons in der Schlinge“ – das Exemplar aus der Hauptbücherei wurde alleine 2018 22-mal ausgeliehen und hält damit den Jahresrekord.

Comicseite von „Hilda“
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Die Comicserie „Hilda“ vom britischen Autor und Illustrator Luke Pearson erscheint seit 2010

Abseits der „allseits bekannten Reihen“ empfiehlt Kollmer etwa die Comicadaptionen von Erich Kästners Kinderromanen „Das doppelte Lottchen“ und „Pünktchen und Anton“ der deutschen Comiczeichnerin Isabel Kreitz, die Comicreihe „Rico & Oskar“, die aus dem Englischen übersetzte „Hilda“-Reihe und die aus dem Französischen übersetzte „Ariol“-Reihe.

„Einzelne Medien nicht in Konkurrenz stellen“

Der Comiczeichner und Autor Art Spiegelman, dessen Graphic Novel „Maus“ 1992 mit einem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, bezeichnet Comics als „Einstiegsdroge in die Lesefähigkeit“. Denn ob ein Kind gerne lesen lernt, hängt zu einem großen Teil davon ab, ob es Spaß und Interesse an dem hat, was es zu lesen bekommt. Rinnerthaler jedenfalls ist zuversichtlich, dass Comics in absehbarer Zeit breite Akzeptanz genießen. Eines ist dem Germanisten allerdings wichtig: „Wir müssen aufhören, einzelne Medien in Konkurrenz zu stellen.“ Denn damit verstelle man Kindern Wege zur Literatur.

„Kein noch so verliebter und euphorischer Comicfan aus dem Bereich der Forschung oder Literaturvermittlung würde sagen, dass man ausschließlich Comics lesen soll. Auf der anderen Seite findet man das schon. Lesebiografien können daher sehr monoton ausfallen und der Lust am Lesen entgegenwirken.“ Rinnerthaler plädiert für Abwechslung beim Lesestoff – denn jedes Kind habe zu unterschiedlichen Zeiten andere Bedürfnisse.