Niederländische Polizei am Tatort
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Mord an Anwalt

Niederlande „wie Italien in den 90ern“

Der Mord an einem Anwalt sorgt in den Niederlanden für Schockwellen: Derk Wiersum wurde Mittwochfrüh von einem unbekannten Täter auf offener Straße erschossen. Der 44-Jährige vertrat in einem Monsterprozess gegen die Drogenmafia den Kronzeugen Nabil B., dessen unschuldiger Bruder ebenfalls erschossen wurde. Die Behörden scheinen zunehmend machtlos, von einem „Narco-Staat“ ist die Rede – und von Zuständen „wie in Italien in den 90er Jahren“.

Nach Angaben der Polizei wurde der 44-Jährige gegen 7.30 Uhr kurz nach Verlassen seiner Wohnung erschossen. Der Täter sei anschließend zu Fuß geflohen. „Das ist ein Angriff auf die gesamte Rechtsstaatlichkeit. Ekelhaft. Das darf in unserem Land nicht passieren“, sagte Justizminister Ferdinand Grapperhaus.

Regierungschef Mark Rutte bezeichnete die Tat als „sehr alarmierend“. Der Chef der Polizeigewerkschaft NPB, Jan Struijs, nannte die Niederlande einen „Drogenstaat“. Die Mafia und deren Gewalt seien außer Kontrolle, heißt es von Medien. „Wer wagt es jetzt, einem Kronzeugen beizustehen?“, fragte der bekannte Anwalt Peter Plasman.

Prozess gegen "Tötungsmaschine“

In einem Kommentar der Zeitung „AD“ werden Parallelen zu Italien in den frühen 90er Jahren gezogen, als die Mafia die italienischen Ermittlungsrichter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino mit Bombenanschlägen tötete.

Wiersum war im „Marengo-Prozess“ beschäftigt. Dieser begann im vergangenen Jahr mit zwei Verdächtigen, mittlerweile sind es 16. „Eine gut geölte Tötungsmaschine“ nannte die Staatsanwaltschaft die kriminelle Vereinigung. In den Augen der Justiz ist der mutmaßliche Boss der Gruppe ein skrupelloser, international operierender Drogenmultimillionär. Für ihn und seine Schergen „ist ein Menschenleben nichts wert“, so die Staatsanwaltschaft.

Blumen liegen am Tatort am Boden
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Blumen an jenem Ort, an dem Wiersum erschossen wurde

Ein Phantom als Kopf der Bande

Ridouan Taghi gilt als mutmaßlicher Kopf der international agierenden Drogenbande. Er steht – gemeinsam mit Said Razzouki, der seine rechte Hand sein soll – auf der Liste der meistgesuchten Männer der Niederlande. Auch auf der „Most Wanted“-Liste von Europol ist er zu finden. 100.000 Euro Belohnung für Hinweise, die zu seiner Ergreifung führen, sind ausgeschrieben. Doch er gilt als Phantom: Bis vor einigen Jahren wussten die Behörden nicht von seiner Existenz und seiner Rolle.

In dem laufenden Prozess kam Wiersum eine tragende Rolle zu: Er vertrat Nabil B., ein Mitglied der Bande, der auch an mehreren Morden beteiligt war. Als allerdings aufgrund einer Verwechslung ein unschuldiger Bekannter von B. erschossen wurde, wechselte er die Seiten und wurde zum Kronzeugen. Und er packte über die Struktur der Marengo-Bande aus – obwohl sein Bruder sechs Wochen später ermordet wurde. 1.500 Seiten sollen seine Aussagen bisher umfassen.

Polizisten an einem Tatort
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Der Bruder des Kronzeugen, ein unbescholtener Familienvater, wurde im März 2018 in Amsterdam ermordet

In niederländischen Medien wird spekuliert, ob der Mann nach der Ermordung seines Anwalts weiter bereit sein wird, auszusagen. Seine gesamte Familie steht unter Polizeischutz, den er aber offenbar als zu wenig sicher erachtet. Am Dienstag soll der Prozess in einem Bunker des extra gesicherten Gerichts in der Nähe des Flughafens Schiphol fortgesetzt werden.

Unklare Fronten

Bisher werden der Bande fünf Morde zwischen 2015 und 2018 vorgeworfen. Die Opfer sind vor allem Männer aus den eigenen Reihen, die verdächtigt wurden, mit der Polizei gesprochen zu haben. „Wer redet, geht“, zitieren niederländische Medien die Parole der Gang. Und „gehen“ heißt: sterben.

Ein anderer Ermordeter wollte angeblich seine Schulden nicht begleichen. Zahlreiche weitere Bluttaten – auch außerhalb der Niederlande – werden mit der kriminellen Vereinigung in Verbindung gebracht. Als Auslöser der Welle der Gewalt vermuten Medien einen verunglückten Drogentransport, bei dem 2012 rund 200 Kilo Kokain verloren gingen. Und in den vergangenen Jahren wurde die Situation für die Ermittler immer unübersichtlicher. Wer in der Unterwelt gegen wen kämpft, kann kaum noch nachvollzogen werden.

Schon 2009 untergetaucht

Erst mit B.s Aussagen und der Hilfe von abgefangenen verschlüsselten Nachrichten, die nach und nach decodiert werden konnten, erkannten die Behörden langsam die Rolle des „Phantoms“ Taghi. Er galt zuvor als unbeschriebenes Blatt: Marokkanischer Abstammung, wuchs er in der Kleinstadt Vianen bei Utrecht auf. Erst 2015 tauchte sein Name erstmals in einem Polizeibericht auf, bei Ermittlungen gegen eine Bande aus der Stadt Nieuwegein. Der Name des Strafverfahrens, „26Koper“, sollte bald zur Chiffre eines der drängendsten Kriminalfälle des Landes werden.

Langsam setzten Behörden und Medien das Puzzle seiner Existenz zusammen. Er soll eine lukrative Haschischschmuggelroute von Familienmitgliedern übernommen haben. Als er dann zum Kokainhandel wechselte, kam das große Geld herein. Seine Drogenroute soll von Panama über Marokko und Spanien in die Niederlande verlaufen. Wo er sich aufhält, weiß man schon lange nicht mehr. Seinen offiziellen Wohnsitz in den Niederlanden hatte er bereits 2009 aufgegeben. Er soll Villen in Spanien, Marokko, Dubai und der Dominikanischen Republik besitzen. Laut niederländischen Medien vermuten die Behörden den Gesuchten derzeit in Dubai. Im Juli veröffentlichte die Polizei neue Fahndungsbilder von Taghi und Razzouki.

Im Marengo-Prozess, der sich laut Beobachtern noch Jahre ziehen wird, ist er trotz Abwesenheit ebenfalls angeklagt. Seine Anwältin Inez Weski, sie gilt als eine der prominentesten und profiliertesten Verteidigerinnen des Landes, nennt bisher sämtliche Vorwürfe absurd.

Höchste Brutalität

Doch belastend sind die abgefangenen Nachrichten, die Taghi zugeordneten werden und vor Brutalität und Spott über die Opfer strotzen, berichten Medien. In Spanien soll er seinen eigenen Schwager töten haben lassen. Offenbar geht er mit höchster Brutalität auch gegen alle vor, die über ihn berichten. 2016 wurde der ehemalige Kriminelle und Kriminalblogger Martin Kok erschossen. Er hatte über Taghi geschrieben. Noch im Herbst soll laut Staatsanwaltschaft der Fall in die Anklageschrift des Marengo-Prozesses integriert werden.

Spekuliert wird auch, ob der mittlerweile 41-Jährige hinter zwei Anschlägen auf Medien steckt: Im Juni 2018 raste ein Lieferwagen in der Nacht in die gläserne Außenfassade des Verlagsgebäudes des „Telegraaf“. Das Auto explodierte, die Fahrer flüchteten. Es entstand hoher Sachschaden. Wenige Tage zuvor wurden die Redaktionsräume der Zeitschriften „Panorama“ und „Nieuwe Revu“ mit Panzerfäusten beschossen. Als Täter wurden Motorradrocker ausgemacht, das Motiv blieb unklar. „Telegraf“ und „Panorama“ hatten ausführlich über Taghi berichtet.

Ausgebranntes Auto im Gebäude der Zeitung „De Telegraaf“ in Amsterdam
APA/AFP/ANP/Laurens Bosch
Der Anschlag auf das Redaktionsgebäude des „Telegraaf“

Zahlreiche Polizisten suspendiert

Ein Grund dafür, dass die Bande lange Zeit fast ungestört agieren konnte, ist, dass sie in der niederländische Polizei offenbar ein dichtes Informantennetz hatte. Im Sommer wurde ein hochrangiger Beamter in Utrecht suspendiert. Und das ist kein Einzelfall: Heuer wurden laut der Zeitung „AD“ schon „Dutzende“ Polizisten wegen Verstößen – unter anderem gegen das Amtsgeheimnis – außer Dienst gestellt.

In Limburg wurden vier Polizisten, davon ein leitender Beamter, suspendiert, bei der Amsterdamer Polizei waren es innerhalb kurzer Zeit sieben. Laut einem internen Polizeibericht könnte das nur die „Spitze des Eisbergs“ sein, berichtete „AD“.