Richterin des Supreme Courts
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Supreme Court

Zwangspause des Parlaments „rechtswidrig“

Der Supreme Court, das oberste britische Gericht, hat am Dienstag in London seine Entscheidung über die von Premierminister Boris Johnson dem Parlament verordnete Zwangspause veröffentlicht. Die Zwangspause sei rechtswidrig, so Brenda Hale, die Vorsitzende des Gerichts. Das Gericht durchkreuzte damit die Brexit-Pläne von Johnson.

Die Aussetzung habe das Parlament daran gehindert, seine Aufgaben wahrzunehmen. Die von Johnson bei Königin Elizabeth II. erwirkte Anordnung zur Parlamentsschließung gleiche einem „weißen Blatt Papier“, so Hale. Die Zwangspause sei „ungültig und unwirksam“. Die Entscheidung der elf Richter und Richterinnen sei einstimmig gefallen.

Die Regierung habe keine Rechtfertigung für solch eine extreme Maßnahme vorgelegt, urteilte der Supreme Court am Dienstag in London. Es handelt sich laut Hale um einen einmaligen Fall, den es unter diesen Umständen noch nie gegeben habe und „den es wahrscheinlich auch nie wieder geben wird“. Johnson hatte die Abgeordneten für fünf statt der üblichen zwei Wochen in eine Zwangspause geschickt.

Bercow: Parlament kommt am Mittwoch wieder zusammen

Die Abgeordneten könnten „unmittelbare Schritte“ für eine Zusammenkunft des Parlaments einleiten, so Hale weiter. Das Unterhaus solle „so schnell wie möglich“ wieder zusammenkommen, so das Gericht. Es liege nun in der Hand des Parlamentspräsidenten zu entscheiden, wie es weitergehe. Parlamentspräsident John Bercow zeigte sich in einer ersten Reaktion erfreut.

„Die Richter haben die Behauptung der Regierung zurückgewiesen, dass die fünfwöchige Schließung des Parlaments nur die übliche Praxis sei, um eine neue Rede der Königin zu ermöglichen“, so Bercow. Er erklärte, dass das Unterhaus nun ohne weitere Verzögerung zusammenkommen müsse. Er werde diesbezüglich unmittelbar mit den Parteichefs beraten. Das Parlament kommt laut Bercow bereits am Mittwoch wieder zusammen, hieß es von Bercow kurz darauf.

Schwere Niederlage für Johnson

Für Johnson ist das eine heftige Niederlage. Der Premier selbst weigerte sich im Vorfeld der Supreme-Court-Entscheidung in New York – er ist derzeit bei der UNO-Vollversammlung –, auszuschließen, das Parlament ein zweites Mal in eine Zwangspause zu schicken. Auch einen möglichen Rücktritt schloss er im Vorfeld dezidiert aus. Gleich nach Bekanntgabe des Supreme-Court-Entscheids gingen allerdings die ersten Rücktrittsforderungen an Johnson ein.

Demonstranten stehen mit Bannern vor dem Supreme Court
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Die Stimmung vor dem Obersten britischen Gerichtshof ist ausgelassen

Der Chef der schottischen Nationalisten im Unterhaus, Ian Blackford, verlangte den sofortigen Rücktritt Johnsons. Labour-Chef Jeremy Corbyn forderte den Premierminister auf, sein Amt niederzulegen, und sprach sich für Neuwahlen aus. Johnsons Anwalt erklärte, der Premier werde das Urteil des Obersten Gerichts respektieren.

Der Chef der schottischen Nationalisten, Ian Blackford, jubelt
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Der Chef der schottischen Nationalisten im Unterhaus, Ian Blackford, jubelt über den Gerichtsentscheid

Farange sieht Taktik gefährdet

Überraschend fiel die Reaktion des strikten EU-Gegners und Vorsitzenden der Brexit-Partei, Nigel Farage, aus. Farage gab dabei vor allem dem Berater von Johnson, Dominic Cummings, die Schuld. Cummings müsse zurücktreten. Die Ausschaltung des Parlaments sei die „schlechteste jemals getroffene Entscheidung“, so Farage laut „Guardian“. In der Zeitung wurde spekuliert, dass Farage besorgt sei, wonach die Taktik von Johnson den gesamten Brexit-Austrittsprozess gefährden könnte.

Die EU-Kommission reagierte mit Zurückhaltung. „Es ist nicht unsere Aufgabe, interne Verfassungsfragen in den Mitgliedsstaaten zu kommentieren, das schließt auch Großbritannien ein“, sagte eine EU-Kommissionssprecherin am Dienstag in Brüssel.

Unterschiedliche Sichtweisen bei Anhörung

Die Aufgabe sei, „schwierige und ernste Fragen des Gesetzes“ zu entscheiden, so Hale zu Beginn der Supreme-Court-Verhandlung letzte Woche. Hale war die erste Frau, die am Supreme Court tätig wurde. Sie ist damit auch die höchstrangige Richterin in der Geschichte der britischen Justiz.

Bei der dreitägigen Anhörung in der vergangenen Woche hatte Klägeranwalt Lord David Pannick gefordert, dass die Abgeordneten „so bald wie möglich“ wieder zusammentreten. Regierungsanwalt Lord Richard Keen warnte das Gericht hingegen vor einer solchen Entscheidung. Es handle sich um „verbotenes Terrain“ für die Gerichtsbarkeit. Ein Anwalt von Johnson erklärte am Mittwoch vor dem Obersten Gericht, die Entscheidung über die Parlamentspause gehöre in die Sphäre der Politik und nicht der Justiz. „Es sind politische Weichenstellungen“, sagte James Eadie.

Die Anrufung des Supreme Court war notwendig geworden, da der schottische High Court und der High Court in der Causa unterschiedlich geurteilt hatten. Das oberste schottische Gericht hatte Johnson vorgeworfen, die Königin über seine wahren Absichten für die Parlamentspause getäuscht zu haben: Die Abgeordneten kaltzustellen, um seine Pläne für einen möglicherweise ungeregelten Brexit durchziehen zu können. Der High Court in London hatte dagegen eine Klage gegen die Zwangspause abgelehnt. Demzufolge handelt es sich um eine rein politische Angelegenheit. Beide Urteile wurden nun vom Supreme Court überprüft.

Das Problem mit der britischen Verfassung

Der Streit berührt den Kern der britischen Verfassung. Anders als in Österreich und in vielen anderen Ländern handelt es sich dabei nicht um ein einzelnes Dokument, sondern um eine ganze Reihe von Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Konventionen. Sie entwickelt sich durch Gesetzgebung und neue Interpretationen bestehender Regeln ständig weiter und wird neuen Verhältnissen angepasst. Manchmal ist daher auch die Rede von einer politischen Verfassung.

Das Funktionieren dieses Systems ist davon abhängig, dass sich alle Akteure an bestimmte ungeschriebene Regeln halten. Aus Sicht seiner Kritiker, aber auch offenbar des Supreme Court, hat Johnson gegen dieses Prinzip verstoßen, weil er die Parlamentsschließung als politisches Mittel eingesetzt hat.

Gesetz verpflichtet Johnson zu Verlängerungsgesuch

Die Zwangspause trat in der Nacht zum 10. September in Kraft. Das Parlament soll erst am 14. Oktober – nur rund zwei Wochen vor dem geplanten Brexit – wieder zusammentreten. Trotz der Zwangspause konnte Johnson nicht verhindern, dass die Abgeordneten ein Gesetz gegen den „No Deal“-Brexit durch das Parlament peitschten. Es verpflichtet den Premierminister zum Antrag auf eine Brexit-Verschiebung, sollte nicht rechtzeitig vor dem Brexit-Datum am 31. Oktober ein Abkommen mit der EU ratifiziert sein.

Dem will sich Johnson jedoch nicht beugen. Der Regierungschef droht mit einem ungeregelten EU-Austritt, sollte Brüssel seinen Forderungen nach Änderungen am Brexit-Vertrag nicht nachkommen. Auch dieser Fall könnte vor Gericht landen.

Es spießt sich am „Backstop“

Johnson will vor allem die von der EU geforderte Garantieklausel für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland („Backstop“) aus dem Austrittsvertrag streichen. Der „Backstop“ sieht vor, dass ganz Großbritannien nach dem Brexit in einer Zollunion mit der Staatengemeinschaft bleibt, bis eine bessere Lösung gefunden ist. Johnson will das nicht, weil sein Land dann keine eigene Handelspolitik machen könnte.

Eine Reihe von Ideenpapieren, die London vergangene Woche der EU auf den Tisch gelegt hatte, reichen der EU aber noch nicht aus. Aus diplomatischen Kreisen in Brüssel hieß es, eine Einigung sei noch „weit entfernt“, aber es könnte ein Fenster für einen Deal geöffnet worden sein.

„In dem Fall wird der Gipfel ein Flop“

Johnson hofft auf einen Verhandlungserfolg spätestens auf dem EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober. Doch wird das Vereinigte Königreich bis Ende des Monats wohl keine ausformulierten Vorschläge für die erhofften Änderungen am Ausstiegsabkommen vorlegen, meinten EU- und britische Vertreter. „In dem Fall wird der Gipfel ein Flop“, sagte ein EU-Diplomat. Eine Einigung zwischen den beiden Seiten müsse mit großem Vorlauf vorbereitet werden. Die Staats- und Regierungschefs könnten auf keinen Fall die technischen Verhandlungen übernehmen.

Schottland: Sturgeon drängt zur Unabhängigkeit

Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon will bei einem „Chaos-Brexit“ die Unabhängigkeit des Landesteils anstreben. „Wir sollten dies dann im nächsten Jahr ins Auge fassen“, sagte Sturgeon bei einem Besuch am Mittwoch in Berlin. Für das Ansetzen eines erneuten Referendums über die Trennung von der jahrhundertealten Union benötigt sie aber die Zustimmung der Regierung in London.

Sturgeon rechnet mit einer Abspaltung ihres Landes als Konsequenz aus dem Brexit. „Ich würde vorhersagen, dass Schottland in den nächsten Jahren unabhängig wird und zu einem unabhängigen Mitglied der EU wird“, sagte die Vorsitzende der Scottish National Party (SNP) am Mittwoch bei einer Pressekonferenz in der deutschen Hauptstadt.

Beim EU-Referendum im Juni 2016 hatte sich eine Mehrheit von 62 Prozent der Schotten gegen den Austritt aus der EU ausgesprochen, während knapp 52 Prozent aller Wähler im Vereinigten Königreich dafür gestimmt hatten. Pläne für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum hatte Sturgeon ein Jahr später aber auf Eis gelegt. 2014 hatten sich die Schotten in einem ersten Referendum mit 55 zu 45 Prozent gegen eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich ausgesprochen.