Britischer Premier Boris Johnson
Reuters/Lucas Jackson
Supreme-Court-Urteil

Johnson fordert nach Niederlage Neuwahl

Der britische Premier Boris Johnson fordert nach der Gerichtsniederlage zur Zwangsauflösung des britischen Parlaments eine Neuwahl. „Wir sollten eine Wahl haben“, sagte er am Dienstag. Kurz zuvor hatte das oberste britische Gericht, der Supreme Court, die von Johnson auferlegte fünfwöchige Zwangspause des Parlaments für rechtswidrig erklärt und mit sofortiger Wirkung aufgehoben.

In britischen Regierungskreisen hieß es, Johnson werde nicht zurücktreten. Er werde im Laufe des Tages eine Telefonkonferenz mit Ministern seines Kabinetts halten und nach seiner Rede vor den Vereinten Nationen in New York noch am Dienstag zurück in die Heimat fliegen.

Das oberste britische Gericht hatte zuvor die bis Mitte Oktober angeordnete Zwangssitzungspause des Unterhauses für unrechtmäßig erklärt. „Die Richter haben die Behauptung der Regierung zurückgewiesen, dass die fünfwöchige Schließung des Parlaments nur die übliche Praxis sei, um eine neue Rede der Königin zu ermöglichen“, sagte Speaker John Bercow. Die Aussetzung habe das Parlament daran gehindert, seine Aufgaben wahrzunehmen.

Corbyn: „Regierung zur Rechenschaft ziehen“

Die Abgeordneten sollen nun schon am Mittwoch wieder zusammenkommen. Das Parlament werde um 12.30 Uhr (MESZ) wieder tagen, teilte Bercow mit. Die von Johnson bei Königin Elizabeth II. erwirkte Anordnung zur Parlamentsschließung gleiche einem „weißen Blatt Papier“, sagte Brenda Hale, die Vorsitzende des Gerichts. Die Zwangspause sei „ungültig und unwirksam“, die Entscheidung der elf Richter und Richterinnen sei einstimmig gefallen.

Labour-Chef Jeremy Corbyn will Johnson am Mittwoch zur Rede stellen. „Morgen tritt das Parlament wieder zusammen. Die Regierung wird für das zur Rechenschaft gezogen, was sie getan hat“, sagte Corbyn bei seiner Abschlussrede zum Labour-Parteitag in Brighton. „Es steht jetzt fest, dass Boris Johnson das Land in die Irre geführt hat. Dieser ungewählte Premierminister sollte jetzt zurücktreten.“ Johnson führe eine Regierung der von Geburt Privilegierten, die glaubten, Regeln gälten stets nur für alle anderen, aber nicht für sie selbst. Auf eine vorgezogene Neuwahl wolle er sich nicht einlassen, solange ein EU-Austritt ohne Abkommen am 31. Oktober droht.

Großbritanniens Präsident des Unterhauses, Speaker John Bercow
AP/Matt Dunham
Parlamentspräsident John Bercow trat kurz nach Bekanntwerden des Urteils vor die Presse

Die Regierung habe keine Rechtfertigung für solch eine extreme Maßnahme vorgelegt, urteilte der Supreme Court. Es handle sich laut Hale um einen einmaligen Fall, den es unter diesen Umständen noch nie gegeben habe und „den es wahrscheinlich auch nie wieder geben wird“. Das Parlament müsse so schnell wie möglich zusammenkommen, so das Gericht.

Neue Niederlage für Johnson

Für Johnson ist das neuerlich eine heftige Niederlage. Die Parlamentarier hatten in den vergangenen Wochen bereits gegen seinen Willen ein Gesetz in Kraft gesetzt, das einen Brexit ohne Abkommen verbietet. Zudem scheiterte der Regierungschef mit zwei Anträgen auf eine vorgezogene Neuwahl. Er respektiere das Urteil des Supreme Court, sagte Johnson am Dienstag, denke aber nicht, dass es richtig sei. Das Parlament wolle eine Neuwahl nicht zulassen, sei aber auch gegen eine Ausnahmeregelung, so Johnson weiter. Auf die Frage, ob ihm die Optionen ausgingen, antwortete Johnson mit „im Gegenteil“. Er versuche, einen Brexit-Deal zu bekommen. Das jetzige Urteil habe aber seine Aufgabe nicht leichter gemacht.

Farage sieht Schuld bei Premier-Berater

Der Chef der schottischen Nationalisten im Unterhaus, Ian Blackford, verlangte den sofortigen Rücktritt Johnsons. Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon sagte, Johnson sei ungeeignet für das Amt, und wenn er nicht zurücktrete, sollte er entlassen werden. Sie glaube im Übrigen auch nicht daran, dass Großbritannien die EU am 31. Oktober verlassen werde.

Überraschend fiel die Reaktion des strikten EU-Gegners und Vorsitzenden der Brexit-Partei, Nigel Farage, aus. Farage gab dabei vor allem dem Berater von Johnson, Dominic Cummings, die Schuld. Cummings müsse zurücktreten. Die Ausschaltung des Parlaments sei die „schlechteste jemals getroffene Entscheidung“, so Farage laut „Guardian“. In der Zeitung wurde spekuliert, dass Farage besorgt sei, wonach die Taktik von Johnson den gesamten Brexit-Austrittsprozess gefährden könnte.

Der Chef der schottischen Nationalisten, Ian Blackford, jubelt
APA/AFP/Tolga Akmen
Der Chef der schottischen Nationalisten im Unterhaus, Ian Blackford, jubelt über den Gerichtsentscheid

Die EU-Kommission reagierte mit Zurückhaltung. „Es ist nicht unsere Aufgabe, interne Verfassungsfragen in den Mitgliedsstaaten zu kommentieren, das schließt auch Großbritannien ein“, sagte eine EU-Kommissionssprecherin am Dienstag in Brüssel.

Unterschiedliche Sichtweisen bei Anhörung

Die Aufgabe sei, „schwierige und ernste Fragen des Gesetzes“ zu entscheiden, sagte Hale zu Beginn der Supreme-Court-Verhandlung letzte Woche. Hale war die erste Frau, die am Supreme Court tätig wurde. Sie ist damit auch die höchstrangige Richterin in der Geschichte der britischen Justiz.

Bei der dreitägigen Anhörung in der vergangenen Woche hatte Klägeranwalt Lord David Pannick gefordert, dass die Abgeordneten „so bald wie möglich“ wieder zusammentreten. Regierungsanwalt Lord Richard Keen warnte das Gericht hingegen vor einer solchen Entscheidung. Es handle sich um „verbotenes Terrain“ für die Gerichtsbarkeit. Ein Anwalt von Johnson erklärte, die Entscheidung über die Parlamentspause gehöre in die Sphäre der Politik und nicht der Justiz. „Es sind politische Weichenstellungen“, sagte James Eadie.

Demonstranten stehen mit Bannern vor dem Supreme Court
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Die Stimmung vor dem Obersten britischen Gerichtshof war ausgelassen

Die Anrufung des Supreme Court war notwendig geworden, da der schottische High Court und der High Court in der Causa unterschiedlich geurteilt hatten. Das oberste schottische Gericht hatte Johnson vorgeworfen, die Königin über seine wahren Absichten für die Parlamentspause getäuscht zu haben: Die Abgeordneten kaltzustellen, um seine Pläne für einen möglicherweise ungeregelten Brexit durchziehen zu können. Der High Court in London hatte dagegen eine Klage gegen die Zwangspause abgelehnt. Demzufolge handelt es sich um eine rein politische Angelegenheit. Beide Urteile wurden nun vom Supreme Court überprüft.

Das Problem mit der britischen Verfassung

Der Streit berührt den Kern der britischen Verfassung. Anders als in Österreich und in vielen anderen Ländern handelt es sich dabei nicht um ein einzelnes Dokument, sondern um eine ganze Reihe von Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Konventionen. Sie entwickelt sich durch Gesetzgebung und neue Interpretationen bestehender Regeln ständig weiter und wird neuen Verhältnissen angepasst. Manchmal ist daher auch die Rede von einer politischen Verfassung.

Das Funktionieren dieses Systems ist davon abhängig, dass sich alle Akteure an bestimmte ungeschriebene Regeln halten. Aus Sicht seiner Kritiker, aber auch offenbar des Supreme Court, hat Johnson gegen dieses Prinzip verstoßen, weil er die Parlamentsschließung als politisches Mittel eingesetzt hat.

Gesetz verpflichtet Johnson zu Verlängerungsgesuch

Die Zwangspause trat in der Nacht zum 10. September in Kraft. Das Parlament soll erst am 14. Oktober – nur rund zwei Wochen vor dem geplanten Brexit – wieder zusammentreten. Trotz der Zwangspause konnte Johnson nicht verhindern, dass die Abgeordneten ein Gesetz gegen den „No Deal“-Brexit durch das Parlament peitschten. Es verpflichtet den Premierminister zum Antrag auf eine Brexit-Verschiebung, sollte nicht rechtzeitig vor dem Brexit-Datum am 31. Oktober ein Abkommen mit der EU ratifiziert sein.

Dem will sich Johnson jedoch nicht beugen. Der Regierungschef droht mit einem ungeregelten EU-Austritt, sollte Brüssel seinen Forderungen nach Änderungen am Brexit-Vertrag nicht nachkommen. Auch dieser Fall könnte vor Gericht landen.

„Backstop“-Regel

Diese Regel gilt als größter Kritikpunkt am Brexit-Paket. Sie sieht vor, dass Großbritannien mit der EU in einer Zollunion bleibt, wenn keine andere Vereinbarung getroffen wird. Pro-Brexit-Hardliner fürchten eine Bindung an die EU auf unabsehbare Zeit.

Es spießt sich am „Backstop“

Johnson will vor allem die von der EU geforderte Garantieklausel für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland („Backstop“) aus dem Austrittsvertrag streichen. Der „Backstop“ sieht vor, dass ganz Großbritannien nach dem Brexit in einer Zollunion mit der Staatengemeinschaft bleibt, bis eine bessere Lösung gefunden ist. Johnson will das nicht, weil sein Land dann keine eigene Handelspolitik machen könnte.

Eine Reihe von Ideenpapieren, die London vergangene Woche der EU auf den Tisch gelegt hatte, reichen der EU aber noch nicht aus. Aus diplomatischen Kreisen in Brüssel hieß es, eine Einigung sei noch „weit entfernt“, aber es könnte ein Fenster für einen Deal geöffnet worden sein.

„In dem Fall wird der Gipfel ein Flop“

Johnson hofft auf einen Verhandlungserfolg spätestens auf dem EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober. Doch wird das Vereinigte Königreich bis Ende des Monats wohl keine ausformulierten Vorschläge für die erhofften Änderungen am Ausstiegsabkommen vorlegen, meinten EU- und britische Vertreter. „In dem Fall wird der Gipfel ein Flop“, sagte ein EU-Diplomat. Eine Einigung zwischen den beiden Seiten müsse mit großem Vorlauf vorbereitet werden. Die Staats- und Regierungschefs könnten auf keinen Fall die technischen Verhandlungen übernehmen.

Schottland: Sturgeon drängt zur Unabhängigkeit

Die schottische Ministerpräsidentin Sturgeon will bei einem „Chaos-Brexit“ die Unabhängigkeit des Landesteils anstreben. Für das Ansetzen eines erneuten Referendums über die Trennung von der jahrhundertealten Union benötigt sie aber die Zustimmung der Regierung in London.

Beim EU-Referendum im Juni 2016 hatte sich eine Mehrheit von 62 Prozent der Schotten gegen den Austritt aus der EU ausgesprochen, während knapp 52 Prozent aller Wähler im Vereinigten Königreich dafür gestimmt hatten. Pläne für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum hatte Sturgeon ein Jahr später aber auf Eis gelegt. 2014 hatten sich die Schotten in einem ersten Referendum mit 55 zu 45 Prozent gegen eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich ausgesprochen.