Wahlplakate für dieafghanische Präsidentschaftswahl
APA/AFP/Wakil Kohsar
Afghanistan

Präsidentenwahl unter Chaosverdacht

Am Samstag wählt Afghanistan einen neuen Präsidenten. Ursprünglich sollte die Wahl im April stattfinden. Die ausufernde Gewalt und das Misstrauen in die Wahlbehörde machten eine Durchführung aber unmöglich. Bis zuletzt stand auch der akutelle, der bereits dritte Wahltermin auf der Kippe. Denn viele rechnen mit einem Desaster wie im Oktober 2018.

Damals wurden knapp neun Millionen Afghaninnen und Afghanen aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Wegen massiver organisatorischer Schwierigkeiten wurde die Wahl in mehr als 400 Wahllokalen um einen Tag verlängert. Teils fehlten Wahlmaterialien, teils das Wahlpersonal. Wähler und Wählerinnen mussten stundenlang warten, um abstimmen zu können. Die Stimmenabgaben für Kabul wurden für ungültig erklärt, weil man unter anderem Wahlfälschung vermutete. Später wurde die Entscheidung zurückgenommen.

Eine Einschätzung der Denkfabrik Afghanistan Analysts Network (AAN) zufolge wird es bei der Präsidentschaftswahl am Samstag ähnlich ablaufen. Zwar sei die Wahlbehörde (IEC) nach der Schlappe im Oktober 2018 etwas besser vorbereitet. Jene biometrischen Geräte, die verhindern sollen, dass eine Person mehrfach wählt, seien verbessert worden. Doch es gebe „ernsthafte Bedenken“, ob das Personal für die Geräte auch richtig geschult wurde. Zudem würden die Wählerlisten Lücken aufweisen und von den 7.384 Wahllokalen sollen nur 5.373 geöffnet werden – von denen 431 nicht geschützt werden könnten.

Angespannte Sicherheitslage

Denn neben der „üblichen Schlamperei“, wie es AAN in der Analyse nennt, ist die Sicherheitslage in Afghanistan wegen der gescheiterten Friedensgespräche zwischen den USA und den radikalislamischen Taliban angespannt. Seit Juli 2018 sprachen die Konfliktparteien über eine Lösung des bald 18 Jahre andauernden Konflikts in Afghanistan. Aber kurz vor einem Abkommen erklärte US-Präsident Donald Trump Anfang September weitere Gespräche für „tot“. Begründet wurde der Abbruch der Verhandlungen mit einem Taliban-Anschlag in Kabul, bei dem auch ein US-Soldat getötet wurde.

Menschenschlange vor einem Wahllokal in Kabul bei der Parlamentswahl 2018
Reuters/Omar Sobhani
2018 wählte Afghanistan ein neues Parlament. Vielerorts mussten Menschen stundenlang warten, um wählen zu können.

Der Abbruch verstärkte den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Präsident Aschraf Ghani, der am Samstag seine Wiederwahl anstrebt, verlangte von den Taliban umgehend eine Feuerpause. Diese forderten allerdings zuerst die Absage der Wahl als Voraussetzung für den Abschluss eines Friedensabkommens mit den USA. Die Regierung unter Ghani, die sich bei US-Verhandlungsrunden mit der Zuschauerrolle begnügen musste und von den Taliban ohnehin ignoriert wird, will nun erst nach der Wahl mit der Gruppe verhandeln.

Die Folge: Die Taliban-Kämpfer kündigten in einer Mitteilung an, am Wahltag Sicherheitskräfte und Wahlzentren anzugreifen, um die Wahl zu verhindern. Man würde auch alle kleineren und größeren Straßen sperren. Die Menschen, so hieß es weiter, sollten ihre Häuser nicht verlassen, um nicht zu einem potenziellen Ziel von Anschlägen zu werden. Wer der Warnung keine Achtung schenke, sei selbst schuld, wenn er zu Schaden komme. Insgesamt haben sich 9,6 Millionen Menschen für die Wahl registrieren lassen.

Wahl von Gewalt begleitet

Nach den Drohungen der Taliban wurden bei Kundgebungen im ganzen Land die Sicherheitsmaßnahmen verschärft. Am Wahltag selbst werden nun 72.000 Sicherheitskräfte für Sicherheit sorgen. Ein Großteil wurde bereits ab Dienstag in Stellung gebracht. Dennoch wird die Wahl von Gewalt begleitet. Nur kurz nach Öffnung der Wahllokale gab es bei Anschlägen mehrere Todesopfer und etliche Verletzten. Berichte über Explosionen kamen unter anderem aus der Hauptstadt Kabul, der nördlichen Provinzhauptstadt Kundus und der östlichen Provinz Nangarhar.

Grafik zur Krisenregion Afghanistan
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/NATO/liveuamap

Bereits im Vorfeld zur Wahl stieg die Zahl der Angriffe. Laut einer Zählung von al-Jazeera wurden allein in der vergangenen Woche 150 Menschen durch Angriffe der Taliban und der US-Luftwaffe sowie bei Razzien der afghanischen Sicherheitskräfte getötet.

Allein in der Provinz Parwan wurden mehr als zwei Dutzend Menschen bei einem Selbstmordattentat der Taliban getötet, Dutzende wurden verletzt. Unter den Toten sollen auch Frauen und Kinder sein. Kurz zuvor fand in Parwan eine Wahlkampfveranstaltung von Präsident Ghani statt. Laut der „Neuen Zürcher Zeitung“ wandte sich Ghani oft per Videoschaltung und Telefon an seine Anhänger. Sein Herausforderer, Regierungschef Abdullah Abdullah, machte „offenbar aus Sicherheitsüberlegungen“ zu Hause Wahlveranstaltungen.

Neben den zwei chancenreichsten Kandidaten Ghani und Abduallah stellen sich offiziell noch 16 andere Kandidaten der Wahl. Allerdings teilte die Wahlbehörde vor wenigen Tagen mit, dass man aus den Medien erfahren habe, dass einige Bewerber ihre Kandidatur zurückgezogen oder sich einem anderen Kandidaten angeschlossen hätten. Sicher ist das aber nicht. Und selbst wenn ein Rückzug offiziell gemeldet wird, stehen alle Kandidaten auf den Stimmzetteln. Diese sind nämlich schon gedruckt. Stimmen, die dann auf diese Kandidaten fallen, seien ungültig, zitiert die Denkfabrik AAN einen Behördensprecher.

Eine Frage der Machtteilung

Der deutsche Afghanistan-Experte und Mitgründer des AAN, Thomas Ruttig, lässt sich auf ORF.at-Anfrage auf eine Voraussage, wer die Wahl am Samstag gewinnt, nicht ein. Er weist in seiner Analyse aber darauf hin, dass ein Kandidat die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen benötigt, um im ersten Wahlgang zu gewinnen (das vorläufige Ergebnis wird voraussichtlich am 19. Oktober veröffentlicht, Anm.). Andernfalls findet am 23. November eine Stichwahl zwischen dem Gewinner und dem Zweitplatzierten statt.

Ashraf Ghani und  Abdullah Abdullah beim NATO-Gipfel 2016
Reuters/Jonathan Ernst
Ein Bild aus dem Jahr 2016: Präsident Ghani und Regierungschef Abdullah teilen sich die Macht in Afghanistan

Beobachter und Beobachterinnen rechnen ohnehin mit einer Deja-vu-Stichwahl zwischen Ghani und Abdullah. Denn die zwei Kandidaten standen sich schon bei der Stichwahl 2014 gegenüber. Damals beharrten sowohl Ghani als auch Abdullah auf dem Wahlsieg. Erst nach einer Neuauszählung und mehreren Gesprächen unter der Leitung des damaligen US-Außenministers John Kerry einigte man sich schließlich auf eine Machtteilung: Ghani wird Präsident, Abdullah Regierungschef. Ein neuerlicher Kompromiss gilt heute als ausgeschlossen.