ÖVP-Chef Sebastian Kurz
ORF.at/Christian Öser
Koalitionen nach der Wahl

Wie viel Experiment will Kurz?

Regierungskoalitionen werden bekanntlich selten schon am Wahlabend ausgerufen. Nach der Nationalratswahl von Sonntag sind jedenfalls so unterschiedliche Konstellationen wie schon lange nicht möglich. Auch eine Dreierkoalition könnte ins Spiel kommen. Fakt ist: Wahlsieger Sebastian Kurz (ÖVP) muss es nicht eilig haben. Im Gegenteil: Die Zeit könnte ihm nützen.

Kurz hat für die ÖVP mit seinem zweiten Antreten als Spitzenkandidat endgültig die Koordinaten im Land und bei seiner Partei eingepflanzt: Die Schwarzen, um in der alten Terminologie zu bleiben, sind klar vor ihrem ewigen politischen Rivalen, der SPÖ, und haben die Roten derart weit auf Abstand gebracht wie noch nie in der Geschichte der Zweiten Republik. Die Freiheitlichen sind noch stärker auf Distanz gehalten. Man darf sich erinnern: Weiterhin von Vorgängern wie Michael Spindelegger und Reinhold Mitterlehner geführt, würde die ÖVP die Freiheitlichen vielleicht aus jener Distanz anschauen, aus der die SPÖ heute auf die Volkspartei blickt.

Was tun? Das ist die große Frage nach dem Wahltag, die in der Stunde historischer Triumphe niemand beantworten mag. Berechtigterweise groß ist die Lust zu feiern bei der ÖVP und beim zweiten Gewinner des Abends, den Grünen. Tief sind die Verwundungen bei SPÖ und FPÖ. Gewinner wie Verlierer werden sich sortieren müssen, bevor sie überhaupt sondieren können.

Ergebnis inklusive Briefwahlprognose
ORF/SORA

Gibt es eine moralische Komponente?

„Es bleibt nur ein Bündnis der Wahlsieger, der beiden (oder drei) Parteien, denen die Wähler die notwendige Veränderung Österreichs zutrauen“, schreibt einer, der die Meinungen von Kurz gut kennt: Wenn „Presse“-Chefredakteur Rainer Nowak das Plus „vor dem Ergebnis“ als eine Art politisch moralischen Auftrag wertet, dann darf man die Klammer in seinem Leitartikel ernst nehmen.

Ein Bündnis der drei Parteien ÖVP, Grüne und NEOS wäre eine Möglichkeit, eine Brücke zwischen zwei sehr konträren Welten – hier die Volkspartei, da die Grünen – zu schlagen und zugleich parlamentarische Stabilität zu sichern.

Diskussion der Spitzenkandidaten

Bei der Diskussion der Spitzenkandidatinnen und -kandidaten war ein Thema dauerpräsent: Welche Koalition will ÖVP-Chef Kurz bilden? Der wich mit dem Versprechen, mit allen zu reden, taktisch aus.

Denn auch wenn, wie NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger am Sonntagabend im ORF betonte, dem grünen Spitzenkandidaten Werner Kogler die größte Auferstehung seit Lazarus gelungen sei, ist noch nicht abzusehen, wie ausgeprägt die Stabilität der Grünen 2019 ist. Schon einmal, im Jahr 2002, hat es die Partei im Versuch, mit der ÖVP eine tragfähige Koalition zu finden, zwischen zwei Lagern zerrissen. Wie die Geschichte ausging und welche Koalition herauskam, weiß man seit damals auch.

Grafik zu den Koalitionsvarianten
Grafik: ORF.at; Quelle: ORF/SORA

Das „Salzburger Modell“

Man darf sich im Herbst 2019 erinnern: Als Salzburgs ÖVP-Chef Wilfried Haslauer die letzte Landtagswahl gewann, hätte er mit SPÖ und FPÖ Zweierkoalitionen bilden können. Beide hatten so wie jetzt im Bund ein Minus vor dem Ergebnis. Haslauer entschied sich für die Dreierkoalition mit Grünen und NEOS. Der Salzburger Politologe Franz Fallend fand am Wahlabend Parallelen zur letzten Salzburg-Wahl, warnte aber: „Landespolitik ist etwas anderes als Bundespolitik. Die Koalition auf der Landesebene scheint ja gut zu funktionieren. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass eine türkis-grüne Koalition auf Bundesebene auch so reibungsfrei funktionieren würde.“

Auf Bundesebene sei das politische Klima „ideologischer“ als auf Landesebene – mehr dazu in salzburg.ORF.at. Oder vereinfacht gesagt: Österreichweit stehen die Grünen sicher weiter links als die bürgerlicher orientierten Grünen in Salzburg. Und man muss nicht an die letzte Wahlrede von ÖVP-Klubobmann August Wöginger in seinem oberösterreichischen Heimatbezirk erinnern, um auf tiefsitzende Ressentiments zwischen Schwarz und Grün zu kommen.

ÖVP-Chef Kurz wird, wie er am Wahlabend nicht müde wurde zu betonen, sein Versprechen halten und mit allen Parteien Gespräche suchen. Er wird keine Eile haben. Sowohl SPÖ als auch FPÖ werden sich sortieren müssen. Bei der SPÖ sind Führungsdebatten nicht ausgeschlossen. Und bei der FPÖ muss die Causa Strache bearbeitet werden, muss Abspaltungsdämmerungen entgegengearbeitet werden.

Die Grünen werden zur Struktur einer von null auf 14 Prozent gekommenen Bewegung finden müssen. Und darf man den Statements des Wahlabends glauben, dann wollen alle an der politischen Gesprächskultur und kommunikativen Anschlussfähigkeit nach diesem Wahlkampf suchen. Kurz hat Zeit. Mancher mögliche Partner wird vielleicht in ein, zwei Monaten eine ganz andere Kontur, gar ein ganz anderes Führungspersonal haben.