Türkischer Militärkonvoi
Reuters
Syrien

Türkei startet Militäroffensive

Die Türkei hat eine Militäroffensive gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Nordsyrien begonnen. Die türkischen Streitkräfte hätten die „Operation Friedensquelle“ gemeinsam mit protürkischen Rebellen gestartet, schrieb der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch auf Twitter. Ziele seien auch Einheiten der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS). Am Donnerstag tritt der UNO-Sicherheitsrat zusammen – US-Präsident Donald Trump sieht die Offensive als „eine schlechte Idee“.

Die YPG-Miliz kontrolliert auf syrischer Seite ein großes Gebiet. „Unser Ziel ist, den Terrorkorridor, den man an unserer südlichen Grenze aufbauen will, zu zerstören und Frieden und Ruhe in die Region zu bringen“, schrieb Erdogan auf Twitter. Die Türkei sieht in den YPG einen Ableger der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und begreift die Angehörigen der Miliz als Terroristen.

Die syrischen Kurden hatten in der Früh eine Generalmobilmachung ihrer Truppen verkündet. Alle seien aufgerufen, sich an die Grenze zu begeben, um in diesen „kritischen historischen Momenten“ Widerstand zu leisten, hieß es in einer Erklärung am Mittwoch. Kurden weltweit wurden aufgefordert, gegen die Offensive zu demonstrieren.

Luftwaffe bombardiert syrische Grenzorte

Die türkische Luftwaffe führte Luftschläge in syrischen Grenzorten durch. Türkische Kampfjets beschossen die Grenzstadt Ras al-Ain, wie die staatliche syrische Nachrichtenagentur SANA und der türkische Sender CNN Türk übereinstimmend berichteten. Ras al-Ain liegt gegenüber dem türkischen Ort Ceylanpinar in der südosttürkischen Provinz Sanliurfa. In Sanliurfa befindet sich die Kommandozentrale für die lange geplante Offensive.

Grafik zeigt Karte Syriens
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

„Menschen sind in Panik“

Der Sprecher der von der Kurdenmiliz YPG angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Mustafa Bali, schrieb auf Twitter: „Türkische Kampfflugzeuge haben damit begonnen, Luftangriffe auf zivile Gebiete durchzuführen. Die Menschen in der Region sind in großer Panik.“

Syrische Kurden melden zivile Tote

Das kurdische Rojava Information Center (RIC) meldete, auch die Grenzstadt Tal Abjad werde beschossen. Einwohnerinnen und Einwohner sagten der dpa, die Stadt sei fast menschenleer, weil die meisten Zivilisten sie verlassen hätten. Dafür seien viele Kämpfer dort. Die Gesundheitsbehörden bereiteten die Krankenhäuser vor. Auf manchen Dächern seien Scharfschützen zu sehen.

Türkei startet Militäroffensive in Syrien

Die Türkei hat trotz aller Warnungen eine Militäroffensive gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Nordsyrien begonnen. Ziel sind die kurdischen Milizen, die dort ein großes Gebiet kontrollieren.

Ein Vertreter der türkischen Sicherheitskräfte sagte, man gehe mit Luftangriffen und Artillerie vor. Stellungen und Munitionslager der YPG würden mit Haubitzen beschossen. Das Rebellenbündnis SDF forderte die USA auf, eine Flugverbotszone einzurichten, um die türkischen Angriffe zu stoppen. Nach Angaben der syrischen Kurden wurden bis dato mindestens fünf Zivilisten getötet.

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete von 15 Toten, darunter acht Zivilisten. Unter den zivilen Opfern seien auch zwei Kinder. 40 Menschen seien verletzt worden. Die in London ansässige regimekritische Beobachtungsstelle verfügt über ein dichtes Informantennetz in Syrien, ihre Berichte sind aber zumeist nicht sofort zu überprüfen.

Geschoße schlagen aus Syrien in Türkei ein

Türkischen Medienberichten zufolge schlugen auch mehrere Geschoße in der Türkei ein. Zwei Mörsergranaten seien aus Ras al-Ain abgefeuert worden und im Zentrum des türkischen Grenzbezirks Ceylanpinar eingeschlagen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Aus der weiter im Nordosten Syriens gelegenen Stadt Kamischli seien sechs Raketen abgefeuert worden. Sie seien im Zentrum des türkischen Grenzbezirks Nusaybin eingeschlagen. Verletzte gebe es nicht.

Der Beginn der Offensive wurde von martialischer Musik begleitet – aus großen Lautsprechern direkt an der Grenze. Der Sender Habertürk berichtete, im Grenzort Akcakale gegenüber Tal Abjad würden Märsche aus der Zeit der Osmanen in großer Lautstärke gespielt.

Kurdische Truppen in Syrien stoppen Kampf gegen IS

Die SDF teilten am Abend mit, alle Operationen gegen die IS-Terrormiliz gestoppt zu haben. Die SDF-Truppen konzentrierten sich nun darauf, sich der türkischen Offensive entgegenzustellen, hieß es aus kurdischen Sicherheitskreisen in Syrien. „Alle Kräfte der SDF sind in den Gebieten nahe der Grenze zur Türkei mobilisiert worden“, erklärte ein Sprecher, der namentlich nicht genannt werden wollte.

Jörg Winter (ORF) über die türkische Offensive in Syrien

ORF-Korrespondent Jörg Winter berichtet aus der Türkei, was über die türkische Offensive in Nordsyrien bisher bekannt ist.

Anwar al-Hak: 18.000 Kämpfer im Einsatz

Ein Sprecher der Brigade Anwar al-Hak, einer syrischen Miliz, sagte, an der ersten Phase der Offensive sollten sich 18.000 Kämpfer beteiligen. Tausende Kämpfer der Syrischen Nationalarmee warteten in der türkischen Grenzstadt Akcakale in einem früheren Flüchtlingslager auf ihren Einsatz.

Wie der Sprecher Abdelrahman Ghasi Dadeh vor Reportern sagte, würden 8.000 Kämpfer Tal Abjad angreifen, während 10.000 weitere Ras al-Ain attackieren würden. Eine nicht genannte Zahl von Kämpfern sollte für einen späteren Angriff auf die Stadt Kobane mobilisiert werden. Alle drei Städte werden bisher von der YPG-Miliz kontrolliert.

Türkei sieht Einsatz mit Völkerrecht vereinbar

Nach Ansicht Ankaras ist der Militäreinsatz mit internationalem Recht vereinbar. Die Operation sei im Einklang mit dem Völkerrecht, dem Artikel 51 der UNO-Charta sowie mit UNO-Resolutionen zum Kampf gegen den Terrorismus, schrieb der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu auf Twitter.

Der Artikel 51 der UNO-Charta regelt das „naturgegebene“ Recht zur Selbstverteidigung, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Darauf beriefen sich die USA zum Beispiel, als sie nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die Taliban und al-Kaida in Afghanistan angriffen.

Cavusoglu schrieb weiter, die Region solle von „Terroristen gesäubert“ werden, zugleich werde die territoriale Integrität Syriens gewährleistet. Vertriebene könnten in ihre Häuser zurückkehren. Der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu schrieb auf Twitter, er hoffe auf ein schnelles Ende des Einsatzes: „Wir beten, dass unsere heldenhaften Soldaten die ‚Operation Friedensquelle‘ so bald wie möglich und erfolgreich abschließen, ohne dass ihnen auch nur die Nase blutet.“

Ankara: Haben im Voraus über Offensive informiert

Die türkische Regierung will mehrere Staaten schon Stunden vor Beginn der Offensive gegen kurdische Milizen in Nordsyrien informiert haben. Deutschland, die USA, Russland, England, Frankreich und Italien sowie die NATO und das Generalsekretariat der Vereinten Nationen seien um 14.00 Uhr (Ortszeit) im Voraus in Kenntnis gesetzt worden, hieß es in einem Tweet des Verteidigungsministeriums. Um 16.00 Uhr begann laut Ministerium schließlich der Einsatz.

US-Senatoren bereiten Resolution für Türkei-Sanktionen vor

Senatoren im US-Kongress bereiten unterdessen eine parteiübergreifende Resolution für Sanktionen gegen die Türkei vor. Der republikanische Senator Lindsey Graham schrieb auf Twitter, er werde die Bemühungen im Kongress anführen, Erdogan „einen hohen Preis“ zahlen zu lassen. Der demokratische Senator Chris Van Hollen teilte mit, die Arbeiten an der parteiübergreifenden Resolution würden demnächst abgeschlossen.

Van Hollen, aber auch Graham übten harsche Kritik an US-Präsident Trump. Trump hatte US-Truppen aus dem nordsyrischen Grenzgebiet abgezogen und Erdogan damit den Weg für den Einmarsch geebnet. Kritiker warfen Trump vor, die Kurdenmilizen im Stich zu lassen, die die Verbündeten der US-Streitkräfte im Kampf gegen den IS waren.

Graham – der eigentlich ein enger Vertrauter des republikanischen Präsidenten ist – schrieb: „Betet für unsere kurdischen Verbündeten, die von der Trump-Regierung schamlos im Stich gelassen wurden. Dieser Schritt stellt die Rückkehr des IS sicher.“ Van Hollen meinte: „Der IS feiert Trumps Verrat.“ Trump hatte argumentiert, er wolle die US-Truppen aus den „endlosen Kriegen“ zurückziehen.

YPG ging gegen Extremisten vor

Die von der YPG angeführten SDF waren im Kampf gegen den IS lange ein enger Verbündeter der USA. Ihre Truppen gingen in Syrien auf dem Boden gegen die Extremisten vor und konnten dabei wichtige Gebiete im Norden und Osten Syriens einnehmen.

Die Türkei will die Kurdenmilizen aus der Grenzregion vertreiben und dort in einer „Sicherheitszone“ syrische Flüchtlinge ansiedeln, die derzeit in der Türkei und Europa leben. Die Türkei hat seit Beginn des Bürgerkrieges im Nachbarland Syrien rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Mittlerweile kippt aber die anfangs von vielen gelebte Willkommenskultur, unter anderem wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage im Land.

UNO-Sicherheitsrat tritt zusammen

Der UNO-Sicherheitsrat kommt am Donnerstag wegen der Offensive zu einer Sondersitzung zusammen. Das teilten Diplomaten am Mittwoch am Sitz der Vereinten Nationen in New York mit. Frankreich hatte die Dringlichkeitssitzung beantragt.

Die EU forderte die Türkei zur Beendigung ihrer Militäroffensive auf. „Eine tragfähige Lösung des Syrien-Konflikts kann nicht militärisch erzielt werden“, hieß es in einer Erklärung der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini im Namen der Europäischen Union.

Die bewaffneten Kämpfe im Nordosten Syriens würden die Stabilität der gesamten Region weiter untergraben, das Leiden von Zivilisten verschärfen und weitere Vertreibungen provozieren, hieß es in der Erklärung weiter. Die Aussichten für eine Friedenslösung unter Schirmherrschaft der UNO würden dadurch weiter erschwert.

Stoltenberg trifft Erdogan am Freitag

Unterdessen forderte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg von der Türkei, mit ihrem Militäreinsatz vergangene Erfolge gegen den IS nicht zu gefährden. Er zähle deshalb darauf, „dass die Türkei mit Zurückhaltung handelt“, schrieb der Norweger auf Twitter. Er werde das Thema am Freitag mit Erdogan besprechen, hieß es weiter. Stoltenberg wird zu einem Besuch in Istanbul erwartet, wo er türkische Regierungsvertreter treffen will.