Grenzgebiet zwischen Türkei und Syrien
AP/Lefteris Pitarakis
Türkische Offensive

Erdogan droht mit Ende von Flüchtlingsdeal

Angesichts der Kritik der Europäer an der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den EU-Staaten erneut gedroht, die Grenzen für syrische Flüchtlinge zu öffnen. Die EU-Kommission bekräftigte jedoch ihre Bedenken. US-Präsident Donald Trump verteidigte unterdessen den Abzug der amerikanischen Truppen.

„EU, wach auf! Ich sage erneut: Wenn ihr unsere Operation als Invasion darzustellen versucht, ist unsere Aufgabe einfach: Wir werden die Türen öffnen, und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen“, sagte Erdogan am Donnerstag in Ankara. Er hatte bereits zuvor mit einer Grenzöffnung gedroht, wenn die EU das Land bei deren Versorgung nicht stärker unterstützt. Er warf der EU erneut vor, ihre Versprechen aus dem Flüchtlingsdeal von März 2016 nicht eingehalten zu haben.

Die EU-Kommission bekräftigte ihre Kritik und forderte die Türkei zur Erfüllung ihrer Pflichten als Beitrittskandidat auf. „Der Beitritt zur Europäischen Union erfordert, dass sich alle Kandidaten der Außenpolitik der Europäischen Union anschließen“, sagte eine Sprecherin der Kommission in Brüssel. „In diesem Zusammenhang, wenn die Türkei es ernst meint mit ihren Ambitionen, ist das der Weg, den sie gehen muss.“ Frankreich bestellte am Donnerstag als Reaktion auf die einseitige Operation der Türkei bereits den türkischen Botschafter ein.

Syrer fliehen in Ras al Ayn
AP
UNHCR-Angaben zufolge sind in der Region Zehntausende auf der Flucht

Flucht bereits begonnen

Die Türkei will nach eigenen Angaben die Kurdenmilizen aus der Grenzregion vertreiben, um dort in einer „Sicherheitszone“ bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge anzusiedeln, die derzeit in der Türkei und Europa leben. Die Türkei hat seit Beginn des Bürgerkriegs im Nachbarland rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen.

Angesichts der jüngsten Eskalation des Konflikts in Syrien sind Zehntausende Menschen auf der Flucht, hieß es vom UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). Den UNHCR-Angaben zufolge trage die Verschärfung des Konflikts zur Verschärfung einer der größten Krise vertriebener Menschen weltweit bei. Hunderttausende Zivilisten seien in Nordsyrien aktuell in Gefahr, sagte UNO-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi.

Laufende Hilfseinsätze bedroht

In einer gemeinsamen Erklärung warnten 14 Hilfsorganisationen, 450.000 Menschen lebten innerhalb eines Streifens von fünf Kilometern entlang der syrisch-türkischen Grenze. Ihnen drohe Gefahr, „wenn nicht alle Seiten maximale Zurückhaltung üben und dem Schutz der Zivilisten Priorität geben“.

Vor bis zu 300.000 neuen Flüchtlingen warnte das International Rescue Committee (IRC). Wie andere NGOs erinnerte auch das IRC an die laufenden Hilfseinsätze in der Region – auch diese seien nun durch die türkische Offensive bedroht. Auch die Hilfsorganisation CARE warnte vor einer „bevorstehenden Gewalteskalation gegen die Zivilbevölkerung“ sowie Massenvertreibungen. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen (MSF) in der Region bereiteten sich darauf vor, dass mehr Patienten ankommen.

Zwei syrische Städte eingekesselt

Die Türkei hatte am Mittwoch ihre seit Längerem angedrohte Offensive unter dem Namen „Quelle des Friedens“ im Nordosten Syriens begonnen. Sie will nach eigenen Angaben entlang der Landesgrenze auf syrischem Gebiet eine 30 Kilometer tiefe „Sicherheitszone“ errichten und verlangt den Abzug der Kurdenmiliz aus dem Gebiet. Dort sollen dann bis zu zwei Millionen in die Türkei geflohene meist arabische Syrer angesiedelt werden.

Jörg Winter (ORF) berichtet von der türkisch-syrischen Grenze

ORF-Korrespondent Jörg Winter berichtet von der türkisch-syrischen Grenze, was sich dort in den letzten Stunden zugetragen hat und wie hoch das Eskalationspotenzial der türkischen Militäroperation in Nordsyrien ist.

Am Donnerstag haben das türkische Militär und verbündete Rebelleneinheiten nach eigenen Angaben zwei Städte eingekesselt. Die Grenzstädte Ras al.Ain und Tal Abjad seien nun umzingelt, erklärte am Donnerstag ein Sprecher der Miliz Nationale Armee, die das türkische Militär im Kampf gegen die von der Kurdenmiliz YPG geführten Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDF) unterstützt.

Türkische Bodentruppen und Kämpfer der Nationalen Armee hätten zuvor mehrere Dörfer in der Umgebung der Städte unter ihre Kontrolle gebracht, sagte der Sprecher. In den beiden Städten, die unter Kontrolle der SDF stehen, leben überwiegen arabische Syrer. Die Orte sind ein wichtiges Ziel der türkischen Führung, die hofft, dass sich die dortige arabische Bevölkerung von der kurdischen Regionalverwaltung lossagt.

Erste Todesopfer

Die Türkei meldete bereits zuvor Geländegewinne. Nach Angaben aus dem Verteidigungsministerium in Ankara seien türkische Truppen östlich des Euphrat weiter vorgerückt. Die vorgesehenen Zielgebiete seien eingenommen und 181 Ziele der kurdischen Miliz getroffen worden. Präsident Erdogan sprach von über hundert getöteten feindlichen Kämpfern. Nach Angaben des Rebellenbündnisses SDF kam es in mehreren Ortschaften und Städten zu heftigen Kämpfen.

Die kurdische Regionalverwaltung in dem Bürgerkriegsland warf der Türkei vor, auch ein Gefangenenlager beschossen zu haben, in dem Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bewacht werden. Damit riskiere die Führung in Ankara den Ausbruch gefährlicher Extremisten und nehme damit „eine Katastrophe“ in Kauf.

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete von 15 Toten, darunter acht Zivilisten. Unter den zivilen Opfern seien auch zwei Kinder. Die in Großbritannien ansässige regimekritische Beobachtungsstelle verfügt über ein dichtes Informantennetz in Syrien, ihre Berichte sind aber zumeist nicht sofort zu überprüfen.

Türkische Grenzstädte beschossen

Auch beim Beschuss der türkischen Grenzstädte Akcakale und Ceylanpinar durch eine kurdische Miliz in Nordsyrien gibt es nach Angaben des örtlichen Gouverneursamts in Sanliurfa zivile Todesopfer. Beim Einschlag von Raketen seien ein Mitarbeiter eines Finanzamts und ein syrisches Baby ums Leben gekommen – 46 Menschen wurden den Angaben zufolge verletzt.

Ermittlungen gegen Kritiker

Innerhalb der Landesgrenzen leitete die türkische Justiz bereits Ermittlungen gegen Dutzende Kritiker und Kritikerinnen des Militäreinsatzes ein. Die regierungskritische Zeitung „Birgün“ teilte am Donnerstag mit, dass der Verantwortliche ihrer Website, Hakan Demir, festgenommen worden sei.

Die Polizei hatte zuvor mitgeteilt, sie habe wegen des Verdachts der „Terrorpropaganda“ in Sozialen Netzwerken Ermittlungen gegen 78 Internetnutzer eingeleitet. Laut „Birgün“ wird Demir „Volksverhetzung“ vorgeworfen. Seine Festnahme stehe wohl in Verbindung mit einem Artikel auf der Website, erklärte die Zeitung. Sie war im Internet scharf kritisiert worden für einen Artikel, in dem sie über zivile Opfer der Offensive geschrieben hatte.

EU forderte umgehend Stopp der Offensive

Die EU forderte unterdessen umgehend einen Stopp der Offensive. Befürchtet werden eine neue Eskalation in dem seit über acht Jahren tobenden syrischen Bürgerkrieg und eine weitere Destabilisierung der Region. Auch der Iran forderte einen sofortigen Rückzug der türkischen Truppen. Teheran könne die Sorgen der Türkei bezüglich der Sicherheit ihrer südlichen Grenzen zwar verstehen, eine Militäroffensive in Nordsyrien sei jedoch die falsche Option für die Lösung der Sicherheitsprobleme, so das Außenministerium auf seinem Webportal.

Israel kritisierte die Militäroffensive ebenso. „Israel verurteilt scharf den türkischen Einmarsch in die kurdischen Gebiete in Syrien und warnt vor einer ethnischen Säuberung der Kurden durch die Türkei und ihre Stellvertreter“, teilte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Donnerstag mit. „Israel ist bereit, dem tapferen kurdischen Volk humanitäre Hilfe zu bieten.“

„Berechtigter Schritt zum Schutz der Grenzen“

Russland, das in dem Bürgerkrieg an der Seite von Machthaber Baschar al-Assad steht, forderte die Türkei am Donnerstag zu einem Dialog mit der syrischen Führung auf, um die Lage zu beruhigen. Die syrische Regierung hatte gedroht, den türkischen Einmarsch nicht einfach hinzunehmen.

Grafik zeigt Karte Syriens
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Dennoch wertet Russland die Militäroffensive als berechtigten Schritt Ankaras zum Schutz der eigenen Grenzen. „Seit Beginn der Syrien-Krise haben wir deutlich gemacht, dass wir die berechtigten Sorgen der Türkei um die Sicherheit der eigenen Grenzen verstehen“, sagte Russlands Außenminister Sergej Lawrow am Donnerstag.

Türkei sieht Einsatz mit Völkerrecht vereinbar

Auch nach Ansicht Ankaras ist der Militäreinsatz mit internationalem Recht vereinbar. Die Operation sei im Einklang mit dem Völkerrecht, dem Artikel 51 der UNO-Charta sowie mit UNO-Resolutionen zum Kampf gegen den Terrorismus, schrieb der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu auf Twitter.

Artikel 51 der UNO-Charta regelt das „naturgegebene“ Recht zur Selbstverteidigung, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Darauf beriefen sich die USA zum Beispiel, als sie nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die Taliban und al-Kaida in Afghanistan angriffen.

Internationale Kritik nach Einmarsch der Türkei in Syrien

Heftige Kritik gibt es nach dem Einmarsch der Türkei im Norden Syriens. Bei den Kämpfen sollen mehr als ein Dutzend Menschen ums Leben gekommen sein.

Der UNO-Sicherheitsrat kommt am Donnerstag wegen der Offensive zu einer Sondersitzung zusammen. Frankreich hatte die Dringlichkeitssitzung beantragt.

Trump verteidigt Truppenabzug

Den Weg für die Offensive hatte ein umstrittener Abzug von US-Truppen aus Nordsyrien geebnet. Trump verteidigte den Schritt gegen Kritik auch aus der eigenen republikanischen Partei: Die jetzt von der türkischen Militäroffensive betroffenen Kurden hätten die USA schließlich nicht im Zweiten Weltkrieg und bei der Landung der Alliierten in der Normandie 1944 unterstützt.

Zu den Vorhaltungen, einige inhaftierte IS-Kämpfer könnten im Chaos der türkischen Angriffe entkommen und woanders eine Bedrohung darstellen, spielte Trump eine Gefahr für sein Heimatland herunter. „Nun, sie werden nach Europa fliehen. Dort wollen sie hin“, sagte er am Mittwoch.

Senator Lindsey Graham – einer der engsten Vertrauten von Trump im Kongress und Republikaner wie er – kritisierte den Präsidenten offen: „Dies ist die Mentalität vor dem 11. September, die den Weg für den 11. September ebnete: Was in Afghanistan passiert, geht uns nichts an. Wenn er damit weitermacht, ist das der größte Fehler seiner Präsidentschaft“, sagte Graham dem Sender Fox News. Graham veröffentlichte am Mittwoch auf Twitter eine parteiübergreifende Resolution mit dem Demokraten Chris Van Hollen, der zahlreiche Strafmaßnahmen gegen die Türkei vorsieht.

Weg für Wiederaufleben des IS „geebnet“

Liz Cheney aus der Fraktionsführung der Republikaner im Repräsentantenhaus kritisierte, die USA ließen mit den Kurden US-Verbündete im Stich, die in Syrien gegen die IS-Miliz gekämpft und zum Schutz des US-Heimatlandes beigetragen hätten. Diese Entscheidung ebne den Weg für ein Wiederaufleben des IS.

Im Kampf gegen den IS war die YPG zusammen mit dem Rebellenbündnis SDF auf syrischem Boden lange Zeit der wichtigste Verbündete der internationalen Militärkoalition unter Führung der USA. Gleichzeitig ist die Miliz der Türkei aber ein Dorn im Auge. Die Regierung in Ankara betrachtet die Miliz als Ableger der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und damit als Terrororganisation. Sie fürchtet ein Erstarken der Kurden jenseits der türkischen Südgrenze und damit auch der in der Türkei nach Autonomie strebenden Kurden.