Einschussloch in einer Glasscheibe
APA/AP/Axel Schmidt
Rechter Eigenbrötler

Todesschütze mit einschlägigem Täterprofil

Der Todesschütze von Halle hat Donnerstagabend vor dem Ermittlungsrichter umfangreich ausgesagt. Er gestand seine Tat – und auch ein rechtsextremistisches, antisemitisches Motiv. Bereits zuvor waren über den 27-Jährigen mehr Details bekanntgeworden. Es zeichnet sich ab, dass sein Profil sehr an andere rechtsextreme Mörder erinnert.

Stephan B. wird als zurückgezogener Eigenbrötler beschrieben, er vertritt antisemitische und frauenfeindliche Ansichten. Er streamte seine Taten wie der Attentäter von Christchurch im März und verfasste wie der norwegische Massenmörder Anders Behring Breivik ein wirres Manifest. Der Vater des Mannes beschrieb seinen Sohn als Eigenbrötler, der häufig vor dem Computer saß. Die „Bild“-Zeitung zitierte den Vater mit den Worten: „Er war weder mit sich noch mit der Welt im Reinen, gab immer allen anderen die Schuld.“ B. habe kaum Freunde gehabt und stattdessen viel Zeit im Internet verbracht. „Der Junge war nur online.“ Der Mann arbeitet laut Medienberichten als Rundfunktechniker. Ein Chemiestudium hatte er nach einer Krankheit abgebrochen.

Vieles deutet darauf hin, dass der Mann viel in einschlägigen rechten und frauenfeindlichen Onlineforen unterwegs war. So bezeichnete er sich in dem Video seiner Taten seltsam selbstironisch immer wieder als „Loser“ und „NEET“. Das Akronym des Begriffs „Not in Education, Employment or Training“, also nicht in Ausbildung, Arbeit oder Schulung, wird in Foren wie 4Chan regelmäßig verwendet. Auch die Selbstbeschimpfungen B.s, die zur Schau gestellte Improvisation passen laut Experten in dieses Bild: Seine Waffen beschreibt er als „billig“, die Ausrüstung als „unzuverlässig“,

Verweis auf „Incel“-Massenmörder

In dem Video soll es laut Berichten auch einen Verweis auf Alek Minassian geben. Der hatte im April 2018 in Toronto einen Anschlag mit einem Van verübt und dabei zehn Menschen getötet. Minassian gab an, eine Rebellion der „Incels“ starten zu wollen. „Incel“ steht dabei für „involuntary celibate“, junge Männer, die unfreiwillig keinerlei Kontakt zu Frauen haben und daraus eine frauenfeindliche und sexistische Haltung entwickeln.

Aufnahme des Terroristen Stephan B.
Reuters
Der Schütze wurde bei seiner Tat von Passanten fotografiert

Der Halle-Todesschütze nennt in seinem Video auch den Feminismus als angeblichen Grund für niedrige Geburtenraten im Westen, die dann zu Massenimmigration führten. Und er erklärt, dass „der Jude“ der Grund für all diese Probleme sei. Zudem leugnet er in dem Video den Holocaust.

Tatplan im Netz geschildert

Ähnlich krude Verschwörungstheorie hatten auch der Christchurch-Attentäter und Breivik formuliert. Das Streamen seiner Tat ins Netz per Helmkamera sehen Experten als eine Art Umsetzung von Ego-Shooter-Videospielen in die Realität. Von einer „‚Gamification‘ von Terror“ sprachen Expertinnen und Experten nicht nur nach dem Christchurch-Anschlag, sondern auch nach dem Massaker in El Paso im US-Bundesstaat Texas im August. Ein 21-Jähriger hatte in einem Supermarkt 22 Menschen getötet und ebenfalls ein rechtsextremes Manifest in einem einschlägigen Forum gepostet.

In dem Schreiben von B. wird unter anderem zum Mord an „Anti-Weißen“, vor allem Juden und Jüdinnen, aufgerufen. Zudem soll der Tatplan darin beschrieben sein. Offenbar überlegte er, eine Moschee oder eine linke Einrichtung anzugreifen, entschied sich dann aber für die Synagoge. Das Dokument dürfte laut einem Bericht des „Spiegel“ authentisch sein – unter anderem sollen die beschriebenen und tatsächlich verwendeten Waffen übereinstimmen. B. hatte seine Waffen offenbar selbst gebaut, weswegen es immer wieder zu Ladehemmungen gekommen war. Das dürfte weitere Opfer verhindert haben.

Teile von mehreren seiner Schusswaffen hat der Täter laut dem ZDF-Magazin „Frontal 21“ mit Hilfe eines 3-D-Druckers hergestellt. Er soll zudem selbst detaillierte Anleitungen zum Bau von Waffen im Internet verbreitet haben.

„Nachahmer im doppelten Sinne“

Das insgesamt 36-minütige Video der Tat soll auf der Plattform Twitch zu sehen gewesen sein und wurde laut Berichten umgehend von dort entfernt. Auch andere Plattformen versprachen, das Video zu löschen. Auf Twitch sahen es laut Plattform rund 2.200 Menschen.

Der mutmaßliche Täter wollte nach Angaben von Generalbundesanwalt Peter Frank ein „Nachahmer im doppelten Sinne sein“. Er habe vergleichbare Taten, die vorher begangen worden seien, nachgeahmt, und „er wollte nach unserer Erkenntnis auch andere zu solchen Taten zur Nachahmung anstiften“, sagte Frank am Donnerstag in Karlsruhe. B. wollte mit seiner Tat „weltweite Wirkung erzeugen“, so der Ermittler.

Nur bedingt „Einzeltäter“

Unklar ist, wie vernetzt der mutmaßliche Täter war. Während vieles darauf hindeutet, dass er sich in einer rechtsextremen Onlinesubkultur bewegt hat, gibt es kaum Anhaltspunkte, dass er in deutsche Neonazi-Kreise eingebunden war. Amtsbekannt war der mutmaßliche Todesschütze laut Medienberichten nicht.

Auch wenn er allein handelte, sei die Bezeichnung Einzeltäter schwierig, so Experten: Der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent verweist im „Spiegel“ darauf, dass der Schütze von Halle mit dem Streaming seiner Taten Teil eines großen virtuellen Netzwerks gewesen sei.

Täter von Halle wollte Massaker

Der rechtsextreme Attentäter von Halle wollte offenbar ein Massaker in der Synagoge anrichten. Nur eine starke Tür, die er nicht aufbrechen konnte, verhinderte, dass noch mehr Menschen ums Leben kamen.

Dass er im Video in – schlechtem – Englisch seine Taten kommentiert, zeige, dass er eine internationale rechte Internetsubkultur erreichen wollte, so Quent zur dpa: „Was er äußert, das sind nicht nur Einzelmeinungen eines Spinners. Es ist Ausdruck einer verbreiteten rechtsextremen Ideologie.“

„Copycat-Terrorismus“ auch auf rechtsextremer Seite

Ähnlich äußerte sich Terrorismusforscher Peter Neumann vom Londoner King’s College. „Sein Publikum für diesen Anschlag waren nicht irgendwelche Neonazis in Thüringen, sondern ein internationales Publikum“, sagte Neumann. „Ich glaube, für jemanden wie ihn sind Anders Breivik oder die Attentäter von Christchurch und El Paso viel wichtigere Inspirationsquellen als die Neonazi-Kameradschaft um die Ecke.“ Das Weltbild scheint eine Art Extremismus von der Stange zu sein, so Neumann. Er spricht von einem „Baukastenprinzip“, das rechte Onlinekulturen lieferten.

Die Extremismusforscherin Julia Ebner von der Londoner Denkfabrik Institute for Strategic Dialogue sprach von „inspirativem Terrorismus in losen Online-Netzwerken“. B. hält sie am Tag nach der Tat für einen Einzeltäter, der sich aber online hat inspirieren lassen. „Das folgt einem Muster, das wir in der Vergangenheit auch bei IS-Einzeltätern beobachten konnten: Den Copycat-Terrorismus, der im Dschihadismus Anschlagswellen bewirkt hat, könnte es jetzt auch zunehmend auf rechtsextremer Seite geben.“

„Wollte Massaker anrichten“

Der Angreifer wollte nach Erkenntnissen der Ermittler ein „Massaker“ anrichten. Der 27-Jährige, gegen den am Donnerstag Untersuchungshaft angeordnet wurde, sei zur Synagoge gegangen, „um zahlreiche Menschen zu töten“, sagte Generalbundesanwalt Frank. Nach seinen Angaben hatte der Rechtsextremist bei seiner Tat am Mittwoch neben Waffen mehrere Kilogramm Sprengstoff bei sich.

Im Auto des mutmaßlichen Täters seien insgesamt vier Kilo Sprengstoff in zahlreichen Sprengvorrichtungen sichergestellt worden, so Frank. Dem Mann würden zweifacher Mord und versuchter Mord in neun Fällen vorgeworfen, sagte der Generalbundesanwalt: „Was wir gestern erlebt haben, war Terror.“ Der Tatverdächtige ist nach Angaben der Ermittler „tief durchdrungen von einem erschreckenden Antisemitismus“ und geprägt von Fremdenhass und Rassismus.

Der mutmaßliche Täter scheiterte beim Versuch, die Synagoge in Halle zu stürmen, und erschoss danach offenbar willkürlich eine Passantin sowie einen jungen Mann in einem Imbiss. Auf der Flucht verletzte er zudem ein Ehepaar, ehe er auf einer Bundesstraße von der Polizei gestellt und festgenommen werden konnte.