NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg
Reuters/Costas Baltas
Offensive in Syrien

Stoltenberg fordert von Türkei „Zurückhaltung“

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat am Donnerstag das Bündnismitglied Türkei aufgefordert, bei seinem militärischen Vorstoß im Norden Syriens „Zurückhaltung“ zu üben. Auf eine offene Kritik verzichtete Stoltenberg – der NATO-Chef erinnerte die Türkei daran, dass es in der Region mit der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) noch immer einen gemeinsamen Feind gebe.

Stoltenberg zufolge gelte es, in der Region „noch mehr menschliches Leid vermeiden“ und „in unserem gemeinsamen Kampf gegen den gemeinsamen Feind weiterhin zusammenzuhalten“. Wie der NATO-Chef am Donnerstag nach einem Treffen mit dem griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis weiter sagte, seien gegen die Terrormiliz zwar große Fortschritte erzielt worden – nun gelte es aber, dafür zu sorgen, „dass wir diese Gewinne erhalten“.

Stoltenberg wird am Freitag in Ankara erwartet und trifft dort zunächst Außenminister Mevlüt Cavusoglu, bevor er von Präsident Recep Tayyip Erdogan empfangen wird.

Die Türkei kämpft im Norden von Syrien derzeit allerdings nicht gegen den IS, sondern gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die auf syrischer Seite der Grenze ein großes Gebiet kontrolliert. Die Türkei sieht in ihr einen Ableger der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Türkei und damit eine Terrororganisation. Das von der YPG angeführte Rebellenbündnis Syrische Demokratische Streitkräfte (SDF) war im Kampf gegen den IS allerdings lange Zeit der wichtigste Verbündete der internationalen Militärkoalition unter Führung der USA.

Warnung vor Wiedererstarken des IS

Weit direkter als Stoltenberg warnte etwa Frankreichs Präsident Emanuel Macron im Zusammenhang mit der türkischen Offensive vor einem Wiedererstarken des IS. Es bestehe das Risiko, dass dieser sein „Kalifat“ wiederaufbauen könne, sagte Macron am Donnerstag in Lyon. Die Verantwortung für dieses Risiko müsse die Türkei übernehmen.

Liz Cheney aus der Fraktionsführung der Republikaner im US-Repräsentantenhaus kritisierte in diesem Zusammenhang auch US-Präsident Donald Trump. Dieser habe mit einem umstrittenen Abzug von US-Truppen aus Nordsyrien erst den Weg für die türkische Offensive geebnet. Damit ließen die Vereinigten Staaten nun jene US-Verbündeten im Stich, die in Syrien gegen die IS-Miliz gekämpft und zum Schutz des US-Heimatlandes beigetragen hätten, so Cheney, die ebenfalls vor einem Wiederaufleben des IS warnt.

Rauchsäulen bei der nordsyrischen Stadt Tal Abyad
APA/AFP/Bulent Kilic
Seit Mittwoch treibt die Türkei in Syrien einen Bodenoffensive voran

Im Nordosten Syriens sind derzeit rund 10.000 IS-Kämpfer inhaftiert. Beobachter befürchten, dass diese in den Wirren der Offensive fliehen und sich neu organisieren könnten. Die Türkei will eigenen Angaben zufolge die Verantwortung über IS-Lager bzw. -Gefängnisse übernehmen, sofern sie in der „Sicherheitzone“ liegen, welche durch die derzeit laufende Offensive errichtet werden soll. Man werde die Heimatländer ausländischer IS-Angehöriger auffordern, diese zurückzunehmen. Sollten sich die Herkunftsländer weigern, dann sei laut Cavusoglu Aufgabe der Türkei, dafür zu sorgen, dass die IS-Kämpfer nicht freikämen.

UNO-Sicherheitsrat hinter verschlossenen Türen

Die türkische Offensive im Norden Syriens beschäftigte am Donnerstag auch den UNO-Sicherheitsrat in New York. Deutschland, Belgien, Frankreich, Polen, Großbritannien und Estland haben bei den Vereinten Nationen erneut ein Ende der türkischen Militäroffensive in Syrien gefordert. „Neue bewaffnete Auseinandersetzungen im Nordosten werden die Stabilität der ganzen Region weiter gefährden, das Leid der Zivilisten vergrößern und weitere Vertreibungen mit sich bringen, die die Zahl der Flüchtlinge in Syrien und der Region vergrößern werden“, teilten die sechs EU-Länder in einer gemeinsamen Erklärung mit.

Jörg Winter (ORF) über die Strategie hinter der türkischen Offensive

ORF-Korrespondent Jörg Winter berichtet von der türkisch-syrischen Grenze über die aktuellen Ereignisse und die hinter der türkischen Militäroffensive stehende Strategie.

Estland sitzt ab dem kommenden Jahr im UNO-Sicherheitsrat, Deutschland, Belgien und Polen derzeit, Frankreich und Großbritannien sind ständige Mitglieder. Zuvor hatte sich der Sicherheitsrat hinter verschlossenen Türen mit dem Thema beschäftigt. Deutschland hatte am Mittwoch im Namen der fünf EU-Mitgliedsländer des Rates beantragt, das Thema am Donnerstag in einer Sitzung des Gremiums anzusprechen.

EU forderte umgehend Stopp der Offensive

Die EU hatte bereits zuvor umgehend einen Stopp der Offensive gefordert. Befürchtet werden eine neue Eskalation in dem seit über acht Jahren tobenden syrischen Bürgerkrieg und eine weitere Destabilisierung der Region.

Auch der Iran forderte einen sofortigen Rückzug der türkischen Truppen. Teheran könne die Sorgen der Türkei bezüglich der Sicherheit ihrer südlichen Grenzen zwar verstehen, eine Militäroffensive in Nordsyrien sei jedoch die falsche Option für die Lösung der Sicherheitsprobleme, so das Außenministerium auf seinem Webportal.

Israel kritisierte die Militäroffensive ebenso. „Israel verurteilt scharf den türkischen Einmarsch in die kurdischen Gebiete in Syrien und warnt vor einer ethnischen Säuberung der Kurden durch die Türkei und ihre Stellvertreter“, teilte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Donnerstag mit. „Israel ist bereit, dem tapferen kurdischen Volk humanitäre Hilfe zu bieten.“

„Berechtigter Schritt zum Schutz der Grenzen“

Russland, das in dem Bürgerkrieg an der Seite von Machthaber Baschar al-Assad steht, forderte die Türkei am Donnerstag zu einem Dialog mit der syrischen Führung auf, um die Lage zu beruhigen. Die syrische Regierung hatte gedroht, den türkischen Einmarsch nicht einfach hinzunehmen.

Grafik zeigt Karte Syriens
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Dennoch wertet Russland die Militäroffensive als berechtigten Schritt Ankaras zum Schutz der eigenen Grenzen. „Seit Beginn der Syrien-Krise haben wir deutlich gemacht, dass wir die berechtigten Sorgen der Türkei um die Sicherheit der eigenen Grenzen verstehen“, sagte Russlands Außenminister Sergej Lawrow am Donnerstag.

Trump: USA könnten vermitteln

Die syrische Regierung lehnt unterdessen einen Dialog mit der vom türkischen Militär angegriffenen Volksverteidigungseinheiten ab. Zur Begründung sagte der stellvertretende Außenminister Faisal Makdad in Damaskus, diese hätten ihr Land verraten und wollten sich von Syrien abspalten. Damit hätten sie der Türkei auch einen Vorwand für den Angriff geliefert.

„Ich hoffe, dass wir vermitteln können“, hieß es hingegen am Donnestag aus dem Weißen Haus. Zugleich drohte Trump der Türkei erneut mit Sanktionen oder harten Strafmaßnahmen gegen die türkische Wirtschaft. Diese Drohung hatte der US-Präsident bereits zuvor ausgesprochen für den Fall, dass sich die Türkei gegenüber den Kurden „inhuman“ verhalten würde – ohne jedoch konkreter zu werden.

Türkei will in 30-Kilometer-Zone „Terror beseitigen“

Die Türkei will ihren Vormarsch in den Nordosten Syriens nach eigenen Angaben nicht über eine Zone von 30 Kilometern hinaus vorantreiben. „Wir gehen 30 Kilometer weit in die ‚Sicherheitszone‘ hinein, dort wird der Terror beseitigt werden“, sagte der türkische Außenminister Cavusoglu am Donnerstagabend. Erdogan zeigte sich mit dem bisherigen Verlauf der auf den Namen „Quelle des Friedens“ getauften Offensive zufrieden. Unter anderem seien den türkischen Angaben zufolge weit über hundert der von der Türkei als „Terroristen“ bezeichneten YPG-Kämpfer getötet worden.

Türkische Truppen rücken in Syrien vor

Trotz internationaler Kritik rücken die türkischen Truppen in Nordsyrien immer weiter vor. Auch die EU forderte einen umgehenden Stopp der Offensive. Erdogan drohte daraufhin mit dem Ende des Flüchtlingsdeals.

Die Türkei will nach eigenen Angaben die Kurdenmilizen aus der Grenzregion vertreiben, um dort in einer „Sicherheitszone“ bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge anzusiedeln, die derzeit in der Türkei und in Europa leben. Die Türkei hat seit Beginn des Bürgerkriegs im Nachbarland rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen.

Zwei syrische Städte eingekesselt

Am Donnerstag haben das türkische Militär und verbündete Rebelleneinheiten nach eigenen Angaben zwei Städte eingekesselt. Die Grenzstädte Ras al-Ain und Tal Abjad seien nun umzingelt, erklärte am Donnerstag ein Sprecher der Miliz Nationale Armee, die das türkische Militär im Kampf gegen die von der Kurdenmiliz YPG geführten SDF unterstützt.

Die kurdische Regionalverwaltung in dem Bürgerkriegsland warf der Türkei vor, auch ein Gefangenenlager beschossen zu haben, in dem IS-Kämpfer bewacht werden. Damit riskiere die Führung in Ankara den Ausbruch gefährlicher Extremisten und nehme damit „eine Katastrophe“ in Kauf. Laut der in Großbritannien sitzenden Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte kamen beim türkischen Vorstoß auch Zivilisten ums Leben. Die Angaben, die sich auf ein Netzwerk aus Informanten in Syrien beruft, sind von unabhängiger Seite schwer überprüfbar.

Zivile Opfer gibt es nach Angaben des örtlichen Gouverneuramts in Sanliurfa auch auf türkischer Seite. Die türkischen Grenzstädte Akcakale und Ceylanpinar seien durch eine kurdische Miliz in Nordsyrien beschossen worden. Beim Einschlag von Raketen seien ein Mitarbeiter eines Finanzamts und ein syrisches Baby ums Leben gekommen – 46 Menschen wurden den Angaben zufolge verletzt.

Zehntausende auf der Flucht

Angesichts der jüngsten Eskalation des Konflikts sind in den betroffenen nordsyrischen Regionen unterdessen bereits Zehntausende Menschen auf der Flucht, hieß es vom UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). Den UNHCR-Angaben zufolge trage die Verschärfung des Konflikts zur Verschärfung einer der größten Krise vertriebener Menschen weltweit bei. Hunderttausende Zivilisten seien in Nordsyrien aktuell in Gefahr, sagte UNO-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi.

In einer gemeinsamen Erklärung warnten 14 Hilfsorganisationen, 450.000 Menschen lebten innerhalb eines Streifens von fünf Kilometern entlang der syrisch-türkischen Grenze. Ihnen drohe Gefahr, „wenn nicht alle Seiten maximale Zurückhaltung üben und dem Schutz der Zivilisten Priorität geben“.

Syrer fliehen in Ras al Ayn
AP
UNHCR-Angaben zufolge sind in der Region Zehntausende auf der Flucht

Vor bis zu 300.000 neuen Flüchtlingen warnte das International Rescue Committee (IRC). Wie andere NGOs erinnerte auch das IRC an die laufenden Hilfseinsätze in der Region – auch diese seien nun durch die türkische Offensive bedroht. Auch die Hilfsorganisation CARE warnte vor einer „bevorstehenden Gewalteskalation gegen die Zivilbevölkerung“ sowie Massenvertreibungen. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen (MSF) in der Region bereiteten sich darauf vor, dass mehr Patienten ankommen.

Erdogan droht mit Ende von Flüchtlingsdeal

Erdogan drohte wegen der Kritik der Europäer an der Militäroffensive unterdessen, die Grenzen für syrische Flüchtlinge zu öffnen. „EU, wach auf! Ich sage erneut: Wenn ihr unsere Operation als Invasion darzustellen versucht, ist unsere Aufgabe einfach: Wir werden die Türen öffnen, und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen“, sagte Erdogan am Donnerstag in Ankara.

Er hatte bereits zuvor mit einer Grenzöffnung gedroht, wenn die EU das Land bei deren Versorgung nicht stärker unterstützt. Erdogan warf der EU erneut vor, ihre Versprechen aus dem Flüchtlingsdeal von März 2016 nicht eingehalten zu haben.