Kurdische Flüchtlinge
APA/AFP/Bulent Kilic
Türkei-Offensive

100.000 Zivilisten laut UNO auf der Flucht

Seit Beginn der türkischen Offensive in Nordsyrien sind nach Angaben humanitärer UNO-Organisationen innerhalb von 48 Stunden mehr als 100.000 Menschen vertrieben worden. Die meisten Menschen seien aus den Städten Ras al-Ain und Tal Abjad geflüchtet, berichtete das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) am Freitag in Genf.

Das UNO-Menschenrechtsbüro berichtete über „verstörende Berichte“ von Bodenangriffen türkischer Truppen und Gruppen, die dem türkischen Militär nahestünden. Es seien unter anderem die Wasserversorgung, Dämme, Kraftwerke und Ölfelder getroffen worden, sagte ein Sprecher. Nach einem Luftangriff sei Berichten zufolge die Wasserversorgung in der Region Aluk zusammengebrochen. In al-Rakka hätten die lokalen Behörden vier Zentren für Vertriebene eingerichtet, berichtete das WFP.

Die Türkei hatte am Mittwoch eine lange geplanten Offensive gegen Kurdenmilizen in Nordsyrien begonnen. Dabei griffen türkische Truppen mehrere syrische Orte entlang der gemeinsamen Grenze an. Die Türkei sieht in der kurdischen YPG-Miliz in Syrien einen Ableger der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und damit eine Terrororganisation. Die Offensive war international auf scharfe Kritik gestoßen. Zuvor hatten die USA angekündigt, ihre Soldaten aus der Grenzregion abzuziehen. Die USA weisen jegliche Verbindung zurück.

MSF: Krankenhaus geschlossen

Die Militäroperationen in Nordsyrien dürften die bereits sehr angespannte humanitäre Situation noch verschärfen, warnte die UNO und appellierte an die Akteure an Ort und Stelle und Regierungen, die Einfluss auf sie haben, Zivilisten zu schützen. Einen Appell veröffentlichte auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF). Sie rief am Freitag alle Kriegsparteien dazu auf, den Schutz von Zivilisten, Personal und Patienten zu gewährleisten. Die Eskalation der Gewalt könne „das Trauma“ in der syrischen Bevölkerung nur verschlimmern.

Menschen stehen im Rauch nahe der Syrisch-Türkischen Grenze
AP/Lefteris Pitarakis
Die Offensive der Türkei in Nordsyrien ging am Donnerstagabend weiter

MSF berichtete, dass das von ihnen unterstützte Krankenhaus in der syrischen Grenzstadt Tal Abjad geschlossen worden sei, weil der größte Teil der Angestellten mit ihren Familien die Stadt verlassen habe. Tal Abjad nahe der türkischen Grenzstadt Akcakale ist ein Hauptfokus der türkischen Offensive. „Als das einzige öffentliche Krankenhaus in der Gegend war das Tal-Abjad-Krankenhaus sehr wichtig für die Gesundheitsversorgung der Stadt und des Umlands.“

Dem Norwegischen Flüchtlingsrat (NRC) zufolge leben in Syrien innerhalb von fünf Kilometern nahe der Grenze schätzungsweise 450.000 Menschen. Darunter sind 90.000 Vertriebene, die zuvor mindestens einmal vor Kämpfen im Land flüchten mussten. Seit Donnerstag ist auch die Caritas in Nordsyrien im Einsatz und verteilt an die aus dem Grenzgebiet zur Türkei geflüchteten Menschen in Notunterkünften Lebensmittel und Wasser. Die Caritas Österreich unterstützt die Mission mit 30.000 Euro Soforthilfe.

Türkei verlangt von NATO „deutliches“ Bekenntnis

Die Türkei verlangte angesichts ihrer Militäroffensive von der NATO ein „deutliches“ Bekenntnis der Solidarität. In einer Pressekonferenz mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu: „Im Rahmen des Grundsatzes der Unteilbarkeit der Sicherheit ist es unsere natürlichste und legitimste Erwartung, dass sich unsere Alliierten mit uns solidarisieren. Es reicht nicht zu sagen: ‚Wir verstehen die legitimen Sorgen der Türkei.‘ Wir wollen diese Solidarität klar und deutlich sehen.“

Grafik zeigt Karte Syriens
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Stoltenberg sagte, er habe seine „ernsten Bedenken hinsichtlich einer Destabilisierung der Region“ geteilt und die Regierung gebeten, „zurückhalten zu agieren“. Er betonte, die Türkei sei ein starker und wichtiger NATO-Verbündeter. Cavusoglu argumentierte, wenn schon jeder einsehe, dass die Sorgen der Türkei „legitim“ seien, dann müsse auch der Kampf gegen den Verursacher der Sorgen legitim sein.

Jörg Winter (ORF) über die Türkei-Offensive

ORF-Korrespondent Jörg Winter berichtet, wie die türkische Bevölkerung die Syrien-Offensive sieht und ob die internationale Kritik etwas bewirken kann.

Das US-Verteidigungsministerium fand schon schärferte Töne und rief die Türkei zum Abbruch der Offensive auf. In einem Telefonat habe Verteidigungsminister Mark T. Esper seinem türkischen Amtskollegen Hulusi Akar klargemacht, dass die USA die „unkoordinierten Aktionen“ ablehnten, da sie Fortschritte der internationalen Koalition gegen die Terrormiliz IS gefährdeten.

USA wollen zwischen Türkei und Kurden vermitteln

US-Präsident Donald Trump hatte unterdessen die USA als möglichen Vermittler zwischen den Kampfgegnern ins Spiel gebracht. „Ich hoffe, dass wir vermitteln können“, sagte Trump in Washington. Zugleich drohte er der Türkei erneut mit Sanktionen oder harten Strafmaßnahmen gegen die türkische Wirtschaft. Deutschland und fünf weitere EU-Länder hatten bei den Vereinten Nationen erneut ein Ende der Militäroffensive gefordert.

Bewaffnete türkische Militärfahrzeuge
Reuters TV
Das türkische Militär drang weiter ins Landesinnere vor

Der sollen seit dem Beginn am Mittwoch nach türkischen Angaben von Freitagfrüh 277 Kurdenkämpfer zum Opfer gefallen sein. Auch ein erster türkischer Soldat sei bei den Gefechten getötet worden, meldete das Verteidigungsministerium in Ankara auf Twitter. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, drei weitere Soldaten seien verletzt worden.

Erdogan: „Wir werden die Türen öffnen“

Die Offensive stieß bei vielen EU-Staaten auf Kritik. Erdogan drohte den EU-Staaten daraufhin, die Grenzen für syrische Flüchtlinge zu öffnen, sollten sich die EU-Staaten nicht mehr zurückhalten. „Wenn ihr unsere Operation als Invasion darzustellen versucht, ist unsere Aufgabe einfach: Wir werden die Türen öffnen und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen“, sagte Erdogan bei einer Rede in Ankara. Er hatte schon zuvor mit der Öffnung der Grenzen gedroht, sollte die EU die Türkei nicht mehr unterstützen.

EU-Ratspräsident Donald Tusk warf daraufhin Erdogan einen Erpressungsversuch vor. Die EU werde „niemals akzeptieren, dass Flüchtlinge zu Waffen gemacht und benutzt werden, um uns zu erpressen“, sagte Tusk am Freitag bei einem Besuch in Zypern. „Daher betrachte ich die Drohungen von Präsident Erdogan gestern als völlig verfehlt“, sagte Tusk.

In Europa wächst die Kritik an der türkischen Offensive weiter. Die Niederlande frieren etwa alle Waffenexporte an Ankara ein. „Die Niederlande haben beschlossen, alle Anträge für Ausfuhrgenehmigungen von militärischer Ausrüstung in die Türkei auszusetzen“, hieß es in einer Erklärung des niederländischen Außenministeriums am Freitag. Vor den Niederlanden hatten bereits der NATO-Staat Norwegen und das EU-Mitglied Finnland angekündigt, ihre Waffenexporte auszusetzen. Schweden sprach sich für ein EU-weites Waffenembargo aus. Frankreich brachte unterdessen mögliche Sanktionen gegen die Türkei ins Spiel.

IS-Anhänger aus Gefängnis geflohen

Nach kurdischen Angaben sind nach einem türkischen Angriff fünf IS-Kämpfer aus einem Gefängnis geflohen. Sie seien in der Stadt Kamischli inhaftiert gewesen, teilten die von Kurden angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) mit. Sie machten den Beschuss durch türkische Artillerie für die Flucht verantwortlich. Die SDF waren im Kampf gegen den IS bisher ein wichtiger Verbündeter der USA. In ihren Gefängnissen und Lagern sitzen Tausende IS-Anhänger.

Die SDF hatten zuvor gewarnt, im Falle eines türkischen Angriffs auf Nordsyrien könnten diese möglicherweise freikommen. Die Türkei will die Verantwortung über IS-Lager bzw. -Gefängnisse übernehmen, sofern sie in der „Sicherheitzone“ liegen, die durch die derzeit laufende Offensive errichtet werden soll. Man werde die Heimatländer ausländischer IS-Angehöriger auffordern, diese zurückzunehmen. Sollten sich die Herkunftsländer weigern, dann ist es laut Außenminister Cavusoglu Aufgabe der Türkei, dafür zu sorgen, dass die IS-Kämpfer nicht freikämen.