Türkische Streitkräfte
AP/Lefteris Pitarakis
Syrien-Offensive

Internationaler Druck auf Türkei wächst

Wenige Tage nach dem Beginn der türkischen Offensive in Nordsyrien wächst der weltweite Druck auf Ankara. Die USA drohten dem NATO-Partner mit Strafmaßnahmen, Deutschland und Frankreich stoppten ihre Rüstungsexporte in die Türkei. Die arabische Liga forderte den „sofortigen Abzug“ aus Syrien. Die Gefechte entlang der Grenze dauern unterdessen an.

„Vor dem Hintergrund der türkischen Militäroffensive in Nordostsyrien wird die Bundesregierung keine neuen Genehmigungen für alle Rüstungsgüter, die durch die Türkei in Syrien eingesetzt werden könnten, erteilen“, so Deutschlands Außenminister Heiko Maas gegenüber der „Bild am Sonntag“.

Auch Frankreich kündigte am Samstagabend an, alle Waffenexporte in die Türkei zu stoppen. Zuvor hatten bereits mehrere europäische Staaten, darunter die Niederlande und Norwegen, angekündigt, ihre Waffenexporte in die Türkei auszusetzen. Österreich liefert seit 2016 kein Kriegsmaterial an die Türkei.

Auch die Arabische Liga verurteilte das Vorgehen Ankaras. Man fordere den „sofortigen Abzug“. Die Angriffe seien eine „Invasion in das Land eines arabischen Staates und ein Angriff auf seine Souveränität“, sagte Generalsekretär Ahmed Abul Gheit. Der irakische Außenminister Mohamed Ali Alhakim sagte bei einem Krisentreffen, die Militäraktion werde die humanitäre Krise und das Leiden der syrischen Bevölkerung verschärfen. Zusammen mit dem libanesischen Außenminister Gebran Bassil forderte er, Syrien wieder als Mitglied in die Arabische Liga aufzunehmen. Syriens Mitgliedschaft wurde 2011, wenige Monate nach Ausbruch der Aufstände im Land, suspendiert.

Kampf um strategisch wichtigen Grenzort

Die Türkei setzte ihre Offensive in Nordsyrien am Samstag unterdessen fort. Die Türkei verkündete, dass man die strategisch wichtige Grenzstadt Ras al-Ain eingenommen habe. Bei dem erfolgreichen Einsatz „Operation Friedensquelle“ hätten türkische Truppen den Ort unter ihre Kontrolle gebracht, erklärte das Verteidigungsministerium in Ankara am Samstag.

Rauch über Ras al-Ain
APA/AFP/Nazeer Al-Khatib
Am Samstag kam es zu Gefechten im Grenzort Ras al-Ain

Die Aktivisten der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte widersprachen dieser Darstellung. Türkische Streitkräfte seien zwar in Ras al-Ain, in dem Ort werde jedoch weiterhin gekämpft. Angaben der Beobachtungsstelle mit Sitz in Großbritannien, die sich auf ein Netzwerk aus Informanten in Syrien beruft, sind von unabhängiger Seite schwer überprüfbar. Auch vonseiten der von den Kurden angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) heißt es, dass die Kämpfe anhalten.

Ras al-Ain liegt entlang einer wichtigen Versorgungsroute zwischen den Städten Tal Abjad im Westen und Kamischli im Osten. Die Kontrolle über beide Orte hat die SDF. Gegen diese hatte die Türkei am Mittwoch eine lang geplante Offensive begonnen. Ankara sieht in den Milizen einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation.

Putin fordert Abzug ausländischer Truppen

Russlands Präsident Wladimir Putin sprach sich erneut für einen Abzug ausländischer Truppen aus Syrien aus. „Jeder, der sich unrechtmäßig in einem fremden Land befindet – in diesem Fall in Syrien –, sollte das Gebiet verlassen. Das gilt für alle Länder“, sagte der Kreml-Chef am Samstag dem in Abu Dhabi ansässigen Nachrichtensender Sky News Arabia zufolge.

Putin schloss dabei auch einen Abzug der russischen Armee aus dem Bürgerkriegsland nicht aus. Sollte eine neue, legitime Regierung in Damaskus das wünschen und nicht mehr die russische Hilfe benötigen, sei Moskau dazu bereit. Russland unterstützt den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad.

Feuer auf US-Soldaten verschärft Spannungen

Das Verhältnis zwischen Washington und Ankara ist unterdessen weiter angespannt. Laut dem Pentagon gerieten auch US-Soldaten am Freitag unter türkischen Beschuss. Amerikanische Einheiten seien im syrischen Grenzgebiet zur Türkei unter Artilleriebeschuss geraten, teilte das US-Verteidigungsministerium mit. Zwar sei der Vorfall nahe dem Grenzort Kobane glimpflich ausgegangen. Gleichwohl schickte das Pentagon eine neuerliche Warnung an die Adresse Ankaras. Die Türkei habe jegliche Handlungen zu vermeiden, „die eine sofortige Verteidigungsreaktion nach sich ziehen könnten“, warnte das Pentagon.

Druck auf Ankara wächst

Die ORF-Korrespondenten Christophe Kohl und Jörg Winter berichten über schärfer werdende Drohungen der USA gegenüber Ankara.

Das türkische Verteidigungsministerium wies den Vorwurf zurück, dass auf Truppen der Amerikaner oder des Militärbündnisses gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) geschossen worden sei. Vielmehr seien türkische Grenzposten von Hügeln aus unter Beschuss genommen worden, die etwa einen Kilometer von einem US-Beobachtungsposten entfernt lägen.

„Akt der Selbstverteidigung“

„Als Akt der Selbstverteidigung“ sei das Gegenfeuer eröffnet worden auf die Stellungen der „Terroristen“ – womit die türkische Regierung in der Regel kurdische Milizen meint. Dabei seien aber „alle Vorsichtsmaßnahmen ergriffen“ und keine US-Kräfte beschossen worden. Nach Rückmeldungen seitens der USA sei das Feuer schließlich „vorsichtshalber“ eingestellt worden.

Bereits zuvor hatte die Türkei angekündigt, die Militäroffensive gegen die Kurdenmilizen in Nordsyrien trotz Sanktionsdrohungen der USA unbeirrt fortzusetzen. Die Türkei erhalte derzeit „von rechts und links Drohungen“, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Freitagabend bei einer Ansprache in Istanbul. „Aber wir werden nicht stoppen. Wir werden keinen Schritt mehr zurückgehen.“

Türkei fordert „Solidarität“ von NATO

Ankara will nach eigenen Angaben entlang der Landesgrenze auf syrischem Gebiet eine 30 Kilometer tiefe „Sicherheitszone“ errichten. Dort sollen dann bis zu zwei Millionen in die Türkei geflohene Syrerinnen und Syrer angesiedelt werden. Die Türkei verlangt den Abzug der Kurdenmilizen aus dem Gebiet, da sie fürchtet, dass ansonsten die Bildung eines kurdischen Staates vorangetrieben werden könnte.

Syrische Kämpfer nahe Tal Abyad
Reuters/Reuters TV
Die Türkei geht seit Mittwoch militärisch gegen Kurdenmilizen im Norden Syriens vor

UNO: 100.000 Menschen auf der Flucht

Die Offensive kostete bereits in den ersten Tagen zahlreichen Menschen in Nordsyrien das Leben und trieb Zehntausende Menschen in die Flucht. In einer Stellungnahme des UNO-Nothilfebüros OCHA und des Humanitären Koordinators der UNO für Syrien in Damaskus war von 100.000 Vertriebenen die Rede. Das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) in Genf hatte zuvor berichtet, die meisten Menschen seien aus den Regionen Ras al-Ain und Tal Abjad geflüchtet. Die Militäroperationen in Nordsyrien dürften die bereits sehr angespannte humanitäre Situation noch verschärfen, warnte die UNO und appellierte an die Akteure und Regierungen, die Einfluss auf sie haben, Zivilisten zu schützen.

Einen Appell veröffentlichte auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF). Sie rief am Freitag alle Kriegsparteien dazu auf, den Schutz von Zivilisten, Personal und Patienten zu gewährleisten. Die Eskalation der Gewalt könne „das Trauma“ in der syrischen Bevölkerung nur verschlimmern. MSF berichtete, dass das von ihnen unterstützte Krankenhaus in der syrischen Grenzstadt Tal Abjad geschlossen worden sei, weil der größte Teil der Angestellten mit ihren Familien die Stadt verlassen habe.

Dem Norwegischen Flüchtlingsrat (NRC) zufolge leben in Syrien innerhalb von fünf Kilometern nahe der Grenze schätzungsweise 450.000 Menschen. Darunter sind 90.000 Vertriebene, die zuvor mindestens einmal vor Kämpfen im Land flüchten mussten. Seit Donnerstag ist auch die Caritas in Nordsyrien im Einsatz und verteilt an die aus dem Grenzgebiet zur Türkei geflüchteten Menschen in Notunterkünften Lebensmittel und Wasser. Die Caritas Österreich unterstützt die Mission mit 30.000 Euro Soforthilfe.

Ex-US-Verteidigungsminister warnt vor IS

Der ehemalige US-Verteidigungsminister und General James Mattis warnte angesichts der Syrien-Offensive vor einem Wiedererstarken des IS. Die USA müssten den Druck auf den IS aufrechterhalten, damit er nicht wieder auflebe, sagte Mattis dem US-Sender NBC. Der IS sei nicht besiegt – man müsse sehen, ob die Kurden trotz des türkischen Militäreinsatzes in der Lage sein werden, den Kampf gegen die Terrormiliz aufrechtzuerhalten. „Es wird Auswirkungen darauf haben. Die Frage ist, wie stark.“

Demos gegen türkische Militäroffensive

Aus Protest gegen die Militäroffensive gingen am Samstag in zahlreichen europäischen Städten Tausende Menschen auf die Straße, darunter auch in Wien. Rund 3.000 Menschen demonstrierten bereits am Donnerstag und Freitag in Wien, am Samstag nahmen laut Veranstalter noch mehr Menschen an den Protesten teil.

In Deutschland gab es unter anderem in Frankfurt, Köln, Hamburg und Berlin Kundgebungen. In Paris nahmen nach Angaben der Veranstalter mehr als 20.000 Menschen an einer Demonstration teil. Auch in Schweden, der Schweiz, Belgien und Zypern fanden Protestaktionen statt.