US-Militärkonvoi
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Syrien

Trump ordnet weiteren Rückzug an

Die USA wollen sich inmitten der türkischen Offensive in Syrien noch weiter aus der Region zurückziehen. US-Präsident Donald Trump ordnete einen Rückzug von Streitkräften aus Nordsyrien an, sagte Verteidigungsminister Mark Esper am Sonntag im US-Fernsehen. Indes entsandte die syrische Armee Truppen in das Gebiet.

Esper argumentierte den US-Truppenabzug gegenüber CBS damit, dass die Gefahr bestehe, dass die USA zwischen zwei sich gegenüberstehenden Armeen gerieten, die in Nordsyrien vorrückten. Das sei eine „sehr unhaltbare“ Situation. „In den letzten 24 Stunden haben wir erfahren, dass die Türkei ihre Offensive weiter südlich und weiter westlich fortsetzen wird als ursprünglich geplant“, sagte er dem Sender CBS. Die USA hätten nicht genug Soldaten, um den türkischen Vormarsch zu stoppen. Sie müssten daher aus der Schusslinie genommen werden.

Deshalb habe der Minister mit Trump gesprochen, der daraufhin angeordnet habe, mit einem Rückzug aus Nordsyrien zu beginnen. Man spreche von weniger als 1.000 Soldaten, die aus Nordostsyrien abgezogen werden sollen, sagte Esper dem Sender Fox News. Es gebe keinen Zeitplan. Der Abzug solle auf „sichere, überlegte“ Weise passieren. Die Ankündigung folgt rund eine Woche nach dem Abzug von 50 Soldaten aus Syrien. Insgesamt sollen sich bis zu diesem Abzug 2.000 US-Soldatinnen und -Soldaten in Syrien befunden haben.

US-Verteidigungsminister Mark Esper
AP/Christophe Ena
US-Verteidigungsminister Espen bat Trump um den Rückzug von Truppen

Die Entscheidung wurde von Kritikern als grünes Licht für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan für den Einsatz gegen die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien gewertet. Trump hatte für die Entscheidung scharfe Kritik auch aus seinen eigenen Reihen kassiert. Die Türkei sieht in der YPG einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation.

Damaskus schickt Truppen

Die Kurdenverwaltung in Nordsyrien gab Sonntagabend eine Einigung mit der Regierung in Damaskus über eine Stationierung syrischer Truppen nahe der Grenze zur Türkei bekannt, um die türkische Offensive in Nordsyrien zurückzuschlagen. „Um diese Aggression zu verhindern und sich ihr entgegenzustellen, wurde mit der syrischen Regierung eine Vereinbarung erzielt“, teilte die Kurdenverwaltung in einer Erklärung auf Facebook mit.

Die Armee solle die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), ein Bündnis der YPG und arabischer Milizen, unterstützen, hieß es vonseiten der Kurden. Weitere Angaben zu der Vereinbarung, etwa ob die Kurden Kompromisse bei ihrer Selbstverwaltung im Norden machen würden, wurden nicht gemacht.

Damaskus schickt Truppen in die Grenzregion

Seit fünf Tagen bombardiert die Türkei die Kurdengebiete im ohnehin kriegsgebeutelten Nachbarland Syrien. Vor kurzem ist bekannt geworden, dass die Regierung in Damaskus nun ebenfalls Truppen in die Region schickt.

Zuvor hatte die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana gemeldet, dass die syrische Armee Truppen nach Norden entsende, um sich der türkischen „Aggression“ entgegenzustellen. Damaskus hatte den Kurden in der Vergangenheit wegen ihres Bündnisses mit den USA Verrat vorgeworfen. Überdies lehnt die syrische Regierung die Selbstverwaltung der Kurden ab und will, dass kurdische Gebiete wieder unter Kontrolle der Zentralregierung fallen.

Der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Großbritannien zufolge machten die Kurdenverwaltung und die SDF „Kompromisse mit Syrien, um den Vormarsch der türkischen Truppen im Norden zu stoppen“. Angaben der Beobachtungsstelle, die sich auf ein Netzwerk aus Informanten in Syrien beruft, sind von unabhängiger Seite schwer überprüfbar.

Türkei erobert Grenzstadt

Die türkische Armee und ihre Verbündeten setzten ihre Angriffe auf die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien unterdessen am Sonntag fort. Die Streitkräfte eroberten nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte die Grenzstadt Tal Abjad. Es sei die größte Stadt, die sie seit Beginn der Offensive am Mittwoch eingenommen hätten, heißt es. Auch die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu meldete die Einnahme des Stadtzentrums.

Syrische Kämpfer in Tal Abyad
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Die Grenzstadt Tal Abjad ist von der türkischen Armee eingenommen worden

Mit der Einnahme von Tal Abjad richtet sich der Fokus der Offensive nun auf die Grenzstadt Ras al-Ain weiter östlich. Die beiden Städte, die unmittelbar südlich der Grenze zur Türkei liegen, sind die Hauptziele der seit Mittwoch laufenden Militäroffensive. Das türkische Verteidigungsministerium teilte derweil mit, auch die wichtige Überlandstraße M-4 sei unter Kontrolle der türkischen Armee. Sie liegt rund 30 Kilometer südlich der Grenze.

Erdogan unbeeindruckt von Sanktionen

Der türkische Präsident zeigte sich unterdessen unbeeindruckt von Sanktionen als Reaktion auf den Vormarsch seiner Truppen in Nordsyrien. Wer glaube, die Türkei werde wegen Wirtschaftssanktionen oder Waffenembargos von ihrem Weg abweichen, irre sich, sagte Erdogan am Sonntag. Er habe auch mit Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel über das Thema gesprochen.

Erdogan sagte, dass die Türkei ein NATO-Partner sei, die Kurdenmiliz YPG, gegen die sich die türkische Militäroffensive in Nordsyrien richtet, sei dagegen eine „Terrororganisation“. An den Westen gerichtet sagte er: „Seid Ihr auf unserer Seite oder auf der Seite der Terrororganisation?“

Appell von Merkel und Macron

Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron forderten von der Türkei ein Ende der Militäroffensive. Die humanitären Folgen der Offensive seien „gravierend“, und es bestehe die Gefahr, dass die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) wieder erstarke, sagte Merkel am Sonntag vor einem Arbeitsessen mit Macron im Elysee-Palast.

Die Offensive schaffe eine „unhaltbare humanitäre Situation“, sagte auch Macron. Deutschland und Frankreich würden sich für eine „gemeinsame europäische Antwort“ einsetzen. Über das Thema beraten am Montag die Außenminister der EU-Staaten. Auch beim EU-Gipfel ab Donnerstag dürfte die türkische Offensive Thema sein. Deutschland und Frankreich hatten zuvor eine Einschränkung ihrer Rüstungsexporte an die Türkei angekündigt.

Macron kündigte „weitere Initiativen in den kommenden Stunden und Tagen“ an. Nach dem Treffen mit Merkel wollte er nach Angaben aus seinem Umfeld am Sonntagabend mit dem Verteidigungsrat in Paris zusammenkommen. Daran nehmen unter anderem Premierminister Edouard Philippe, Verteidigungsministerin Florence Parly und Außenminister Jean-Yves Le Drian teil.

Hunderte IS-Familien flüchteten aus Lager

Mehrere hundert Angehörige von IS-Kämpfern flüchteten unterdessen nach kurdischen Angaben aus einem Lager in Nordsyrien. Insgesamt soll es sich um fast 800 Menschen handeln. 785 Frauen und Kinder seien nach Luftangriffen der türkischen Armee aus der Einrichtung in Ain Issa geflüchtet, teilten die Verwaltung der halbautonomen Kurdenregion mit.

Nach Angaben der Beobachtungsstelle verließen die Wachen das Lager, in dessen Nähe sich die türkische Armee Gefechte mit kurdischen Kämpfern lieferte. Ein Anführer des kurdisch-geführten Rebellenbündnisses SDF sagte, es gebe nicht genug Wachpersonal, nachdem Kämpfer an die Front beordert worden seien.

Weitere Sicherheitskräfte seien nach dem Beschuss durch das türkische Militär weggelaufen. In Ain Issa, das in der Nähe der ebenfalls umkämpften Stadt Tal Abjad liegt, gebe es nur noch 60 bis 70 Sicherheitskräfte, im Vergleich zu normalerweise rund 700. Insgesamt leben in dem Lager 12.000 Menschen, darunter auch Familien von IS-Kämpfern. Erdogan sagte dazu nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu: „Das ist eine Desinformation.“ Sie diene lediglich dazu, den Westen „aufzuwiegeln“.

SDF: Politikerin und Frauenrechtlerin getötet

Die SDF teilte unterdessen mit, dass eine bekannte kurdische Politikerin und Frauenrechtlerin getötet wurde. Havrin Chalaf, Generalsekretärin der Partei Zukunft Syriens (FSP), sei auf einer Landstraße in einen Hinterhalt geraten, teilten die SDF mit.

Die SDF machte die Türkei und deren Verbündete für Chalafs Tod verantwortlich. „Dies zeigt, dass der türkische Einmarsch nicht zwischen einem Soldaten, einem Zivilisten oder einem Politiker unterscheidet“, hieß es in einer Mitteilung der SDF. Von türkischer Seite gab es keine offizielle Bestätigung. Die regierungsnahe Zeitung „Yeni Safak“ meldete am Samstagabend unter Berufung auf Quellen aus der Gegend, Chalaf sei bei einer Operation „außer Gefecht gesetzt worden“.

Dutzende zivile Opfer

Seit dem Beginn der Offensive am Mittwoch wurden nach Angaben der Beobachtungsstelle inzwischen mehr als 85 kurdische Kämpfer sowie rund 40 Zivilisten getötet. Die Angaben der in Großbritannien ansässigen Organisation sind von unabhängiger Seite kaum zu überprüfen. Auf türkischer Seite wurden nach Angaben Ankaras 18 Zivilisten getötet. Bei den Kämpfen in Nordsyrien seien außerdem vier Soldaten getötet worden.

Frau wird von Männern evakuiert
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Menschen flüchten vor den herannahenden Kämpfen

Nach UNO-Angaben flohen bereits mehr als 130.000 Menschen vor den Kämpfen. Das UNO-Büro zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) warnte am Sonntag davor, dass bis zu 400.000 Menschen durch die Kämpfe vertrieben werden könnten.