Russlands Präsident Wladimir Putin vor türkischen und russischen Fahnen
Reuters/Umit Bektas
Syrien

Putins Poker mit verfeindeten Verbündeten

Rückzug der USA, Einmarsch der Türkei, Abkommen zwischen Kurden und syrischem Regime: Die vergangenen Tage haben die Machtverhältnisse in der Region grundlegend durcheinandergeworfen. Russland steht nun scheinbar zwischen seinem Partner, der Türkei, und seinem Günstling, dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad. Ein Problem dürfte das für den russischen Präsidenten Wladimir Putin aber nicht sein.

Die Situation im Norden Syriens wird von Tag zu Tag verworrener. Viele Parteien agieren mit unterschiedlichen Interessen und undurchsichtigen Absprachen. Überraschend schien zuletzt der Deal zwischen den Kurdenmilizen und der Regierung in Damaskus. Die Kurden hatten Assads Regime um Hilfe gebeten, ein Akt der Verzweiflung. Zuvor hatten die USA auf Geheiß von Präsident Donald Trump angekündigt, die Streitkräfte aus Nordsyrien abzuziehen. Daraufhin begann die Türkei ihren Einmarsch in die syrische Region, um gegen die Kurden vorzugehen. Sie will zudem an der Grenze eine „Sicherheitszone“ schaffen.

Syriens Regime entsandte als Reaktion Truppen an die Grenze zur Türkei. Es sei ein „schmerzhafter Kompromiss“, schrieb am Montag der Kommandant der von Kurdenmilizen angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Maslum Abdi, in einem Beitrag für das US-Magazin „Foreign Policy“.

Russland als „Game Changer“

„Wir stehen den türkischen Messern jetzt mit nackter Brust entgegen.“ Die Zusammenarbeit mit Assad und seinem Verbündeten Russland habe notgedrungen stattgefunden. „Wir trauen ihren Versprechen nicht. Ehrlich gesagt ist schwer zu wissen, wem man vertrauen kann“, schrieb Abdi. Die Regierungen in Damaskus und Moskau hätten aber Vorschläge gemacht, die Millionen Menschenleben retten könnten.

Russland ist nach dem Rückzug der USA der letzte verbliebene große Akteur in Syrien. Der Kreml stieg 2015 mit Bombardierungen auf Rebellengebiete in den Konflikt auf der Seite Assads ein. Damals hatte Assad bereits die Kontrolle über weite Teile Syriens verloren. Russlands Einsatz drehte den Spieß um und half dem Regime, große Gebiete wieder einzunehmen. Nach mehr als acht Jahren Bürgerkrieg beherrschen die Anhänger Assads rund zwei Drittel der Fläche des Landes. Und Russlands Einfluss in der Region ist inzwischen unvergleichbar groß.

Russland und die Türkei hingegen standen einander auf unterschiedlichen Seiten gegenüber. Ankara unterstützte Rebellengruppen gegen Assad. Später richtete sich das Augenmerk der Türkei aber zunehmend darauf, neue Flüchtlingsströme ins eigene Land zu verhindern. Die gefestigte Position Assads nahm Ankara schließlich hin. Mit Russland ging die Türkei eine strategische Partnerschaft ein, gemeinsam verhandelte man diverse Ansätze im Syrien-Konflikt.

„Kein Problem für Russland“

Nun scheint Russland zwischen zwei großen Parteien zu stehen: zwischen Ankara, das gegen die Kurden vorgeht, und Damaskus, das mit ihnen nun gemeinsame Sache macht. Dennoch ist Moskau keineswegs in Bedrängnis in der Causa, wie Experten meinen. Denn viel sei vorher abgesprochen, wie der Außenpolitikexperte Fjodor Lukjanow und der Syrien-Fachmann Kirill Semjonow gegenüber der deutschen Nachrichtensendung „Tagesschau“ sagten. Die türkische Offensive sei entgegen den offiziellen Stellungnahmen „kein großes Problem für Russland“, so Semjonow: „Der Einmarsch hat uns nicht wirklich überrascht. Wahrscheinlich war er sogar vorher mit Moskau abgestimmt.“

Grafik zeigt Karte Syriens
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Auch Lukjanow mutmaßte, die Türkei habe sich mit Washington und Moskau abgesprochen. „Die Absprache könnte sein, dass die USA sich nur ein Stück weit zurückziehen, um der Türkei Spielraum für ihre ‚Sicherheitszone‘ zu geben. Russland kann damit leben, denn der Vorteil liegt auf der Hand.“ Was Assad stärke, stärke auch Russland. Die Kurden seien nun gezwungen, sich an Assad und an Moskau zu wenden. Denn eine Autonomie der Kurden standen Putins Ziel für Syrien, die Wiederherstellung staatlicher Kontrolle, im Weg, analysierte auch die „Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ“). Daher habe der Kreml die Kurden auch zu Verhandlungen mit Assad gedrängt. Für Putin sei das Ganze ein Drahtseilakt, aber er könne schließlich als lachender Dritter dastehen.

Für den Westen, so analysierte am Montag der „Spiegel“, seien die jüngsten Entwicklungen hingegen ein „Super-GAU“. Sowohl USA als auch Europa hätten „nun über Nacht ihren noch verbliebenen geringen Einfluss“ in Syrien verloren. „Von dem zu erwartenden Chaos dürfte neben Syrien, Iran und Russland vor allem auch der ‚Islamische Staat‘ (Terrormiliz IS, Anm.) profitieren – und sich wieder weiter ausbreiten.“

Syrische Kämpfer auf einem Tanklaster
APA/AFP/Bakr Alkasem
Von der Türkei unterstützte Kämpfer in Syrien

Die USA nahmen sich mit dem Rückzug selbst aus dem Spiel. US-Präsident Trump verteidigte den US-Rückzug am Montag einmal mehr auf Twitter. „Glauben die Leute wirklich, dass wir gegen das NATO-Mitglied Türkei in den Krieg ziehen sollten?“, schrieb er. Die US-Regierung drängte auf den Abbruch der türkischen Offensive und warnte die Türkei mehrfach vor Sanktionen. Gleichzeitig unterstellte er auch den Kurden, gerade noch Verbündete der USA, sie wollten mit der Freilassung von IS-Terroristen die USA in den Konflikt mit der Türkei hineinziehen.

Kurden im syrischen Krieg

Die Kurdenmiliz YPG baute sich im Norden Syriens eine Machtposition auf. Sie spielte eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den IS. 2015 vertrieben die Kurden den IS aus Kobane, später wurde das kurdisch-arabische Bündnis Syrische Demokratische Kräfte (SDF) gegründet, das von den YPG dominiert wird und von den USA direkte militärische Unterstützung erhielt. 2017 vertrieben die SDF den IS aus Rakka. Die Türkei war über die Autonomiewünsche alarmiert und startete eine Offensive gegen die YPG.

Die EU verurteilte die türkische Militäroffensive in Nordsyrien und rief erneut zur Beendigung der „einseitigen Militäraktion“ sowie zum Rückzug der türkischen Streitkräfte auf. Die EU-Länder verpflichteten sich auch selbst, nationale Waffenembargos gegen die Türkei in Kraft treten zu lassen.

Debatte über NATO-Beistand

Die EU sorgte sich am Montag auch über die Verpflichtung, dem NATO-Mitglied Türkei womöglich beistehen zu müssen, obwohl der Einmarsch abgelehnt wird. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte, sollte die Türkei von Syrien angegriffen werden, könne sich das Militärbündnis mit dem Bündnisfall konfrontiert sehen. In Artikel 5 des NATO-Vertrags ist das Prinzip der „kollektiven Verteidigung“ verankert. In ihm heißt es, dass „ein bewaffneter Angriff“ gegen einen oder mehrere Partner „in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird“. Die anderen NATO-Mitglieder müssten dem angegriffenen Land Beistand leisten.

Dem widersprach der Politologe Thomas Schmidinger. „Sollte die Türkei aufgrund ihres Angriffs auf Syrien in einen militärischen Konflikt mit der syrischen oder russischen Armee schlittern, hat sie das selbst zu verantworten“, schrieb Schmidinger am Montag auf Facebook. Dafür dürfe sie „keinerlei Unterstützung aus Deutschland, Frankreich, Italien oder Spanien bekommen“. Ein „Angriffskrieg“ könne keine Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 des NATO-Vertrages nach sich ziehen.