Stop-Schild mit Inuit-Schrift
Reuters/Andy Clark
Inuit

Schriftrevolution in der Arktis

Die rund 47.000 Inuit, die im kanadischen Teil der Arktis leben, sprechen fünf verschiedene Dialekte der Sprache Inuktut – und verwenden bisher neun verschiedene Schreibsysteme. Nun haben sich die Ureinwohnerinnen und Ureinwohner der Arktis auf ein einheitliches Schriftsystem geeinigt. Das ist je nach Sichtweise ein Erfolg oder ein Tabubruch.

Ein Tabubruch insofern, als künftig lateinische Buchstaben die bisher verwendeten traditionellen Zeichen ersetzen sollen. Die Schriftsysteme sind allerdings nicht von den Inuit selbst entwickelt worden. Vielmehr handelt es sich dabei um Erfindungen christlicher Missionare im 18. Jahrhundert. Während die Inuit die verschiedenen Dialekte zumindest ansatzweise verstehen, sind die Schriften eine größere Hürde, wie das Wochenmagazin „Economist“ vor Kurzem berichtete.

Maßnahme gegen Vormarsch von Englisch

Wegen dieser Schwierigkeiten werde Inuktut, eine Gruppe von Sprachen, die von 39.000 Inuit gesprochen wird, immer mehr von Englisch verdrängt. In Nunavut, der nördlichsten Region, leben die meisten Inuit. Trotzdem bieten nicht alle Schulen Unterricht in Inuktut an. Und das, obwohl dort ab 2020 der bilinguale Unterricht per Gesetz verpflichtend wird. In der Verwaltung des Territoriums verursacht die Übertragung in neun Schriften entsprechende Mehrkosten.

Die meisten Telefone und Tastaturen brauchen eine eigene Software, damit man auf ihnen in den komplizierten Schriftsystemen mit Silbenzeichen und diakritischen Zeichen tippen kann. Vor allem junge Inuit würden daher meist auf Englisch tippen, so Crystal Martin-Lapenskie vom National Inuit Youth Council. Das verschärfte die seit Jahrzehnten bestehenden Sorgen, die eigenen Sprachen würden über kurz oder lang ganz vom Englischen verdrängt werden.

Kind wirft Stein ins Meer
AP/The Canadian Press/Sean Kilpatrick
Das Territorium Nunavut im Nordwesten Kanadas ist 25-mal so groß wie Österreich – und hat etwa 37.000 Einwohner

Gedrehte Zeichen

Inuktut ist die Bezeichnung für die Dialekte, die im Territorium Nunavut gesprochen werden. Einer davon, Inuktitut, verwendet – neben anderen – auch 14 Konsonantenzeichen. Folgt diesem ein Vokal, wird das Zeichen gedreht oder gespiegelt.

Acht Jahre um Lösung gerungen

Ende September beschloss daher die nationale Inuit-Organisation Tapiriit Kanatami ein einheitliches Schreibsystem. Dabei werden Kombinationen lateinischer Buchstaben verwendet, um die Laute aller fünf Dialekte darzustellen. Insgesamt acht Jahre lang arbeitete eine Arbeitsgruppe an dieser Lösung. Ältere Inuit, die mit den verschiedenen Silbensystemen aufgewachsen waren, hatten immer wieder die Befürchtung geäußert, dass mit dem lateinischen Alphabet ein Teil der Inuit-Kultur ausgelöscht werde.

Linguistinnen und Linguisten mussten Wege finden, die verschiedenen Klänge, wie die verschiedene Aussprache eines „R“ ohne diakritische Zeichen darzustellen. Jeder Klang musste repräsentiert werden. „Kein Dialekt durfte ausgelassen werden“, betonte zudem Michael Cook, einer der Linguisten, die an dem Projekt beteiligt waren. Martin-Lapenskie ist überzeugt, dass das neue Schriftsystem „unsere Sprache stärken wird“.

Die Befürworter des neuen Systems werben damit, dass es nun möglich sei, einheitliche Schulbücher für Inuit herauszugeben. Und sie verweisen darauf, dass die traditionellen Silbenschriften eben nicht von den Ureinwohnern stammen, sondern „im Zuge der Kolonialisierung eingeführt“ wurden. Das nunmehrige einheitliche System sei „das erste Schriftsystem von Inuit für Inuit in Kanada“, so der nationale Dachverband.

Erinnerung an deutsche Rechtschreibreform

Doch mit der Entscheidung ist der Widerstand naturgemäß nicht schlagartig verstummt. Und die Reaktion auf den nunmehrigen Beschluss erinnert möglicherweise manche hierzulande an die Debatte über die letzte Rechtschreibreform im deutschsprachigen Raum. Diese war ebenfalls jahrelang heftig diskutiert und infrage gestellt worden – und manche verweigerten zunächst, die neuen Regeln anzuwenden. Die Zeitung „Nunatsiaq News“ kündigte laut „Economist“ ebenfalls an, weiter die Silbensprache zu verwenden. Deren Herausgeber erwartet nämlich eine „lange Übergangsperiode“.