Buchcover Salman Rushdie: Quichotte
C. Bertelsmann Verlag (Repro: ORF.at/Carina Kainz)
Rushdies „Quichotte“

Der alte Narr und die Opioidkrise

Der indisch-britische Autor Salman Rushdie versucht sich an einer Adaption von Miguel de Cervantes epochalem „Don Quijote“. Vor dem Hintergrund der Opioidkrise in den USA holt er Cervantes’ Werk ins Zeitalter der kompletten medialen Berieselung – und scheitert dabei auf hohem Niveau.

Die Veröffentlichung von Rushdies Roman „Die satanischen Verse“ 1988 zeitigte drastische Reaktionen. Da der Roman ein theologisches Problem des Islam, das auf die Biografie des Religionstifters Mohammed bezogen ist, polemisch deutet und zudem den iranischen Revolutionsführer Ajatollah Ruhollah Chomeini persiflierte, wurde Rushdie zur Zielscheibe von religiösen Hardlinern.

Chomeini veröffentlichte wenige Monate nach Erscheinen eine Fatwa, in der er zur Ermordung Rushdies aufrief. Mehrere Übersetzer des Romans wurden Opfer von Attentaten, der Autor lebt seitdem offiziell im Untergrund. „Die satanischen Verse“ waren ein Beispiel für Rushdies frühe Meisterschaft im konsequenten Unterwandern und Kommentieren der Realität mit den Mitteln einer augenzwinkernden Form der Fiktion.

Buchcover Salman Rushdie: Quichotte
ORF.at/Carina Kainz
„Quichotte“ enthält viele der für Rushdie typischen, literarischen Zutaten

Viele der Themen und Techniken aus der Frühphase seines Schaffens sind nach wie vor in den Romanen des nunmehr 72-jährigen Rushdie auszumachen. Das Märchenhafte, die Thematisierung der indischen Diaspora und der aus ihr erwachsenden komplexen Identitätsformen, die Faszination für das Bollywood-Kino und den es umgebenden Starkult sind Zutaten, die sich in der Rezeptur des gerade erschienenen „Quichotte“ wiederfinden.

Hommage an einen Klassiker

Rushdies neuer Roman, das lässt sich bereits am Titel ablesen, ist eine Hommage an Cervantes’ in zwei Teilen 1605 und 1615 erschienenen Roman „El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha“ („Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha“). Darin gerät dem heruntergekommenen Landadeligen und leidenschaftlichen Leser von Ritterromanen Don Quijote der Realitätssinn dermaßen durcheinander, dass er sich selbst für einen berühmten Ritter, seinen Stallmeister Sancho Panza für einen Knappen und beispielsweise Windmühlen für Riesen hält, die er bekämpfen muss.

Eine Hommage an Cervantes

Der „kulturMontag“ traf Salman Rushdie anlässlich seines neuen Romans „Quichotte“ – eine Hommage des Autors an den spanischen Literaten Cervantes – in New York.

2002 wählten 100 Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf Nachfrage des Osloer Nobelinstituts den „Quijote“ zum besten Buch der Welt – und seinen Protagonisten somit zum berühmtesten Irren der Weltliteratur. Der Einfluss des „Don Quijote“ von Cervantes begründet sich mitunter darin, dass hier wohl erstmals Fiktion über eine Fiktion thematisiert wird. So kann der Roman als fundamentale Medienkritik und als elaboriertes Spiel gleichermaßen gelesen werden. Im zweiten Teil liest der selbst ernannte Ritter zum Beispiel den gedruckten ersten Teil seiner Geschichte – eine für das 17. Jahrhundert epochale Erweiterung der literarischen Möglichkeiten.

Realitätsfern im Alter der Massenmedien

Ähnliche Formen der geistigen Umnachtung bedrohen Rushdies „Quichotte“, den er sich laut Vorwort dezidiert französisch ausgesprochen vorstellt. Sein Protagonist ist Pharmavertreter indischer Herkunft, der im Auftrag seines erfolgreichen Cousins, seines Zeichens Besitzer des umsatzstarken Pharmakonzerns „Dr. Smile“, in seinem Chevrolet ein US-Kaff nach dem anderen abklappert, um Ärzte zum widerrechtlichen Verschreiben von starken Opioiden zu ermuntern.

Autor Salman Rushdie
Reuters/Ritzau Scanpix Denmark
Rushdie schickt seinen Protagonisten durch ein schäbiges, oft rassistisches Amerika

Die Stunden abseits der Arztgespräche verbringt er vor dem Fernseher in sich ähnelnden Hotelzimmern. Die Dauerkonsumation von Serien und Talkshows hat auf ihn eine ähnliche Wirkung wie die Ritterromane auf sein Vorbild aus dem spanischen 17. Jahrhundert. Er verliebt sich Hals über Kopf in die beliebte Talkmasterin Salma R., die aus einer Dynastie von großen Bollywood-Schauspielerinnen stammt und irgendwann den finanziellen Verlockungen des amerikanischen Showbusiness nachgab.

Der betörte Quichotte setzt sich in den Kopf, Salma zu erobern, aber nicht ohne sich einen Gefährten mit dem vorhersehbaren Namen Sancho zuzulegen. Dieser ist allerdings ein eingebildeter, pubertierender Sohn des alten Narren, der sich erst langsam für Außenstehende materialisiert. Die beiden machen sich auf die Reise durch ein schäbiges und oftmals rassistisches Amerika, um die Angebetete Quichottes zu finden.

Doppelter fiktionaler Boden

An diesem Punkt intensiviert Rushdie sein literarisches Spiel: Der alte Narr und sein eingebildeter Sohn sind Figuren des im Entstehen begriffenen aktuellen Romans eines drittklassigen Autors mit dem Pseudonym Sam DuChamp. Dieser Verfasser von Spionageromanen ist wie seine Figur Quichotte (und deren Erfinder Rushdie) schon in seinen Siebzigern und versucht jetzt den ganz großen, hochliterarischen Roman zu verfassen, den er immer schreiben wollte.

Buchhinweis

Salman Rushdie: Quichotte. C. Bertelsmann, 461 Seiten, 25,70 Euro.

Man erfährt viel, vor allem Unangenehmes über diesen Mann. Meist wird er nur „Bruder“ genannt, er hat sich furchtbar mit seiner Schwester, die nur als „Schwester“ aufscheint, zerstritten, und scheinbar ist in diesem Rushdie-Roman die Familie die Keimzelle allen Übels. Sein eigener Sohn, der nur als „Sohn“ erscheint, will nichts mehr von ihm wissen, genauso wenig wie seine „Ex-Frau“. Seine betrübliche Existenz übersetzt der Autor erstaunlich direkt in seine Romanwelt.

Gerade hier liegt Rushdies Pointe in seiner Quichotte-Version: die Realität des Autors, der den Antihelden Quichotte überhaupt erst hervorbringt, wirkt wie die miserabel skizzierte Version eines pessimistischen Familienromans. Gleichzeitig vermittelt diese Skizze, wie der Autor seine Rechercheergebnisse zur US-Opioidkrise und eigene Lebenserfahrungen unverblümt in seinen Quichotte hineinschreibt. Das führt mitunter zu witzigen Effekten, wenn nach über 300 Seiten klar wird, warum der Quichotte von Sam DuChamp französisch ausgesprochen werden sollte und was das mit harten Drogen zu tun hat.

Die These von den kalten Zeiten

Das alles liest sich zwar über weite Strecken sehr unterhaltsam, was Rushdies unverkennbarer Meisterschaft im Zusammenführen von Erzählsträngen geschuldet ist, liefert aber im Endeffekt nichts weiter als einen schalen Thesenroman auf hohem erzählerischem Niveau. Die These lautet folgendermaßen: Die Welt ist politisch und menschlich auf den Hund gekommen, die wenigen Dinge, die uns in diesen kalten Zeiten stützen, sind dümmliche mediale Unterhaltung, Smartphone-Apps und starke Schmerzmittel.

Der postmoderne Erzähltrick, offenlegen zu wollen, dass die Realität nach den Regeln einer Fiktion aufgebaut ist, liest sich 2019 in Rushdies Version folgendermaßen: „Vielleicht entsprach es der condition humane, in Fiktionen zu leben, die durch Unwahrheiten oder durch das Zurückhalten von tatsächlichen Wahrheiten verursacht wurden. Vielleicht war das menschliche Leben in dem Sinne wahrhaftig fiktional, als jene, die es lebten, nicht begriffen, dass es nicht real war.“

Auf Shortlist für Booker Prize

Mit „Quichotte“ schaffte es Rushdie auf die Shortlist des Booker Prize, des mit umgerechnet 57.000 Euro höchstdotierten englischsprachigen Literaturpreises. Ausgezeichnet wurden letztlich zwei Autorinnen: Margaret Atwood für „The Testaments“ („Die Zeuginnen“), die Fortsetzung ihres Weltbestsellers „Der Report der Magd“, und Bernadine Evaristo für „Girl, Woman, Other“ (noch nicht auf Deutsch lieferbar).

Allerdings wurde Rushdie bereits 1981 für seinen Roman „Midnight’s Children“ („Mitternachtskinder“) mit dem Preis ausgezeichnet und erhielt für denselben Roman die beiden Spezialpreise The Booker of Bookers (1993) und The best of Booker Prize (2008).