Mutter mit Kindern geht an Wahlplakaten der Schweizer Parteien vorbei
Reuters/Arnd Wiegmann
Parlamentswahl

Schweiz steht vor „Linksrückli“

Die Schweiz hat ein neues Parlament gewählt. Um 12.00 Uhr schlossen am Sonntag die letzten Wahllokale. Umfragen sagten im Vorfeld der Wahl ein kleines Politbeben voraus: Denn die Grünen und die Grünliberalen (GLP) sollen als einzige Parteien Zugewinne einfahren. Erstmals steht gar eine grüne Regierungsbeteiligung im Raum. Die Klimadebatte hat das wichtigste Wahlkampfthema von 2015 – Asyl und Zuwanderung – wohl abgelöst.

Erste Ergebnisse wurden am Nachmittag erwartet. Auf den Rechtsruck der vergangenen Wahl dürfte nun also ein grün gefärbter Linksruck folgen. Wie in anderen europäischen Ländern fällt der vorhergesagte Erfolg der ökologisch orientierten Parteien mit der zurzeit intensiv geführten Klimadebatte zusammen. Die von der 16-jährigen Klimaaktivistin Greta Thunberg angeführte „Fridays for Future“-Bewegung machte immerhin auch vor den Eidgenossen nicht halt. Allein in der Hauptstadt Bern nahmen mehrere Zehntausende Ende September an der Klimademo teil.

Dass die Schweizer Parlamentswahl eine Klimawahl werden dürfte, darauf weisen zudem aktuelle Erkenntnisse des SRG-„Wahlbarometers“ hin. Laut diesem nehmen die Schweizerinnen und Schweizer den Klimawandel aktuell als zweitwichtigste politische Herausforderung wahr. Bei den Themen, die als für den Wahlentscheid relevant angegeben werden, führt er die Liste sogar an – gefolgt von den Themen Beziehungen zur EU, Zuwanderung und Altersvorsorge.

Junge Wähler als Zünglein an der Waage

Konkret dürften die Grünen und die GLP laut Wahlbarometer sechs Prozent der Stimmen dazugewinnen – viele davon sollen aus dem Nichtwählerlager kommen. Die Grünen kämen damit auf über zehn Prozent und könnten die Christliche Volkspartei (CVP) als viertstärkste Kraft im Parlament überholen. Die GLP, die 2004 als Abspaltung durch wirtschaftsliberale Exponenten der Grünen enstand, dürfte ferner auf etwas mehr als sieben Prozent Wähleranteil kommen. Zugewinne oder Verluste von mehr als zwei Prozent sind in der stabilen Schweizer Politlandschaft selten.

Stimmenanteile laut Umfrage – Säulengrafik
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: SRG

Nummer eins – und damit noch vor der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP) – soll wie 2015 die nationalkonservative Volkspartei (SVP) werden. Erwartet werden jedoch recht große Verluste. 2015 erreichte die Partei, die sich gegen die „Klimahysterie“ auflehnt und Slogans wie „Sollen Linke und Nette die Schweiz zerstören?“ plakatiert, knapp 30 Prozent der Stimmen – ein Rekord. Weil der SVP laut der Zeitung „Tages-Anzeiger“ dieses Mal das Migrationsthema fehle, würde ein großer Teil der Wählerschaft nun nicht zur Urne gehen. Deutlich wurde das schon bei den Kantonswahlen im Frühling in Zürich, Luzern und im Baselland.

Experte: Kein Durchbruch bei Dauerthema EU

Bei den letzten Wahlen „vor vier Jahren hat man über Asyl und Flüchtlinge geredet. Das an sich rechte Thema hat bis in die Mitte ausgestrahlt“, wurde Michael Hermann, Leiter der Forschungsstelle sotomo, vom öffentlich-rechtlichen Rundfunksender SRF zitiert. Sollte es nun einen Ruck zu den Grünen geben, „werden die Jungen wesentlichen Anteil daran haben“, so Hermann.

Beim Dauerthema – den angespannten Beziehungen zur EU – erwartet Politologe Hermann auf absehbare Zeit keinen Durchbruch. Mit scharfen Kampagnen gegen Zuwanderung und gegen eine engere Anbindung an die EU hatte sich vor allem die SVP in Szene gesetzt. Wenn sie deutlich verliert, könnte das für neuen Schwung sorgen, sagte Hermann. Eine Einigung dürfte sich dennoch lange hinziehen – weil mittlerweile Parteien von rechts und links eine Annäherung an die EU skeptisch sehen.

Kommt erstmals Grüner in Regierung?

Auf die Zusammensetzung der Regierung dürfte das neue Kräfteverhältnis voraussichtlich keine Auswirkungen haben. Denn die Schweizer Regierung ist auf Stabilität ausgerichtet und umfasst alle wichtigen Kräfte des Landes. Ihre Zusammensetzung hat sich in den vergangenen 50 Jahren nur marginal verändert. Völlig ausgeschlossen seien Änderungen aber nicht, sagte Hermann.

Sitzverteilung im Parlament – Tortengrafik
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: SRG

Denn die Mitte-rechts-Parteien SVP und Freisinnig-Liberale Partei (FDP) stellen im siebenköpfigen Ministergremium mit je zwei Vertretern bisher die Mehrheit. Doch abhängig davon, wie groß die erwarteten Verluste bei der FDP ausfallen, könnten die bisher nicht vertretenen grünen Parteien versuchen, der FDP einen ihrer Sitze streitig zu machen.

Die Partei befinde sich Medienberichten zufolge in einer „Klimafalle“: Während die Mehrheit der Wählerschaft für klimafreundliche Maßnahmen ist, scheint die Parteibasis in der Frage gespalten. Im Vorfeld wurde auch kolportiert, dass die aufstrebenden Grünen je nach Ausgang der Wahlen ein Auge auf den CVP-Sitz werfen könnten.

Niedrige Wahlbeteiligung erwartet

Wahlberechtigt waren gut fünf Millionen Schweizerinnen und Schweizer – doch lange nicht alle dürften von diesem Recht Gebrauch machen: Bei der vergangenen Nationalratswahl lag die Wahlbeteiligung nur bei 48 Prozent. Die Wahllokale schlossen bereits zu Mittag.

Neu zu besetzen sind bei der Wahl insgesamt 200 Mandate in der Großen Kammer, dem Nationalrat, und 46 im Ständerat. Während der Nationalrat nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird, sind in der kleineren Kammer alle Kantone ungeachtet ihrer Bevölkerungsstärke mit jeweils zwei Sitzen vertreten, die nach dem Mehrheitswahlrecht vergeben werden. Gesetzesbeschlüsse erfordern eine Mehrheit in jeder der beiden Parlamentskammern.