Union-Jack-Flaggen während einer Plenarsitzung im EU-Parlament in Brüssel
APA/AFP/Kenzo Tribouillard
Bewegung bei Brexit

Zwischen Durchbruch und Zusammenbruch

Die Zeit vor dem geplanten Austritt Großbritanniens aus der EU am 31. Oktober wird knapp, doch eine Einigung zwischen London und Brüssel liegt bisher nicht auf dem Tisch. In Medien wurde am Dienstag über einen Durchbruch bei den Gesprächen berichtet, in EU-Kreisen bremste man umgehend. Doch selbst im Falle einer gemeinsamen Vereinbarung warten noch große Hürden.

Der britische „Guardian“ berichtete am späten Nachmittag, dass Großbritanniens Premier Boris Johnson kurz davor sei, einen Brexit-Deal mit der EU zu erlangen. Schon am Mittwoch könnte ein Entwurf eines Abkommens veröffentlicht werden, so die Zeitung, die sich auf hochrangige Quellen in London und Brüssel beruft. Ermöglicht sollen das große Zugeständnisse Johnsons haben: Er soll auf die Forderung der EU eingegangen sein, eine Zollgrenze entlang der Irischen See zu ziehen – damit bliebe Nordirland in der Zollunion.

In Brüssel wollte man das jedoch nicht bestätigen. Zwei hochrangige EU-Vertreter bezeichneten den Artikel als „deutlich zu früh“, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, es würde sich um „tendenziöse Berichterstattung“ handeln. Irlands Premier Leo Varadkar sagte bei einem Pressetermin am Nachmittag, dass es „Anzeichen für Fortschritte gebe“, der Spalt zwischen London und der EU sei aber noch recht groß.

EU setzte London Frist

Die EU forderte am Dienstag jedenfalls Bewegung von Großbritannien ein. EU-Chefunterhändler Michel Barnier setzte Johnson offenbar eine Frist bis Dienstagabend, um Vorschläge für eine Brexit-Vereinbarung vorzulegen. Für Barnier gibt es laut Diplomaten nur drei mögliche Szenarien: „Deal heute, Verlängerung oder Zusammenbruch.“

Der Chefunterhändler der EU, Michel Barnier
AP/Virginia Mayo
Michel Barnier setzte Großbritannien eine Frist bis zum Abend

Großbritannien müsse einen Gesetzesentwurf vorlegen, über den dann die EU-Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel entscheiden sollten, sagte der irische Außenminister Simon Coveney. Barnier sagte, er halte eine Einigung mit London vor dem EU-Gipfel diese Woche für „sehr schwierig, aber noch möglich“.

Einigung „nicht einfach“

Mehrere EU-Außenminister, die in Luxemburg zusammenkamen, zeigten sich skeptisch. Wenn es noch eine Einigung gebe, könne sich der EU-Gipfel ab Donnerstag damit befassen, sagte der belgische Außenminister Didier Reynders in Luxemburg. „Es ist aber nicht einfach.“ Ein Text müsse spätestens Mittwochvormittag zur wöchentlichen Sitzung der EU-Kommission vorliegen, damit die Mitgliedstaaten vor dem Gipfel noch informiert werden könnten, hieß es aus EU-Kreisen. Die jüngsten Vorschläge aus London sind Barnier zufolge nicht ausreichend.

Das Brexit-Chaos in London

Ob sich doch noch ein Deal ausgehen könnte und wie dieser aussehen soll, analysiert ORF-Korrespondentin Eva Pöcksteiner.

Barnier sagte vor seinen Beratungen vor der Presse, es sei höchste Zeit, dass die Regierung in London „ihre guten Absichten in einen Gesetzestext“ gieße. „Eine Vereinbarung zu erreichen, ist immer noch möglich. Offensichtlich muss jedes Abkommen für alle funktionieren – für das ganze Vereinigte Königreich und für die gesamte Europäische Union.“

Barnier soll die EU-Staaten am Mittwochnachmittag über den Stand der Brexit-Verhandlungen informieren. Derzeit spreche viel dafür, dass zumindest noch technische Arbeiten nach dem Gipfel erforderlich seien, hieß es am Dienstag in deutschen Regierungskreisen. Ein weiterer Brexit-Sondergipfel vor Monatsende wird von Diplomaten nicht ausgeschlossen.

Frankreich sieht „positive Dynamik“

Die französische Regierung sah am Dienstag „eine positive Dynamik“, auch die deutsche Regierung nannte es „unbestreitbar, dass es Fortschritte gegeben hat“. Frankreich ist offenbar auch bereit, eine erneute Verschiebung des Brexit-Termins zu diskutieren. Aber eine längere Frist werde die Probleme nicht beseitigen, sagte die Staatssekretärin für Europaangelegenheiten, Amelie de Montchalin. „Zeit allein ist keine Lösung.“ Nötig sei ein „signifikanter politischer Wandel“ in Großbritannien, um eine Diskussion über eine Fristverlängerung aufzunehmen. Ein solcher Wandel könne die Aussicht auf eine Wahl oder ein Referendum sein, „etwas, das die politische Dynamik verändert“.

Bereits vor dem Treffen Barniers mit den Vertreterinnen und Vertretern der 27 verbleibenden EU-Staaten sagte die finnische Europaministerin Tytti Tuppurainen, die EU müsse sich darauf vorbereiten, dass es keine Scheidungsvereinbarung, sondern eine erneute Verschiebung des Brexit-Termins geben werde.

Außenminister Alexander Schallenberg sagte unterdessen, den EU-Ländern würden noch 16 Tage bleiben, um zu einer Lösung der Brexit-Frage zu kommen. Er sei „guter Dinge“, dass das gelingen werde, da das gemeinsame Interesse bestehe, einen „No Deal“-Brexit – also einen ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der EU – zu vermeiden, so Schallenberg. Es sei noch zu früh zu sagen, ob es dafür nach dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs diese Woche einen zweiten Gipfel brauchen werde.

DUP erteilt Johnson Abfuhr

Johnson führte bereits in den letzten Tagen intensive Verhandlungen mit der EU über den Brexit – doch auch mit den Gerüchten über eine Einigung dürfte Johnsons Spielraum unverändert klein bleiben. Denn es gilt auch, den Verbündeten Johnsons, die nordirisch-protestantische DUP, zufriedenzustellen.

Diese warnte Johnson umgehend: Sollte Johnson weitere Zugeständnisse an die Europäische Union machen, um einen Brexit-Deal zu erreichen, werde die DUP das Abkommen nicht unterstützen. Das berichtet das Nachrichtenportal HuffPost unter Berufung auf Kreise der Partei.

Unklar ist auch, wie die Brexit-Hardliner in Johnsons Konservativer Partei reagieren. Zuletzt wurde gemutmaßt, dass eine Ablehnung der DUP auch den Widerstand der Hardliner bedeuten könnte. Für den erzkonservativen Vorsitzenden des Unterhauses, Jacob Rees-Mogg, ist jedoch offenbar eine Einigung in Sicht: Er glaube, es gebe nun ausreichend Unterstützung für eine Brexit-Vereinbarung, sagte er am Dienstag dem Radiosender LBC. Es gebe eine Stimmung im Land, und die Politiker müssten bis zu einem gewissen Grad empfänglich dafür sein.

Sitzung im Unterhaus laut Rees-Mogg noch nicht fix

Eine für Samstag geplante Sondersitzung des Unterhauses hänge jedenfalls von den Ergebnissen des EU-Gipfels ab, so Rees-Mogg in einem Statement am Nachmittag. Eine Sitzung am Samstag sei äußerst selten, er könne erst eine solche ankündigen, wenn man mehr über den Ausgang der Gespräche Bescheid wisse, so Rees-Mogg.

Termine, Optionen für Brexit, Karte Großbritannien
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Die Zeit für einen geordneten Brexit, also mit einer Vereinbarung über die künftigen Beziehungen, wird jedenfalls extrem knapp. Der Samstag ist dabei ein besonders entscheidender Tag: Denn Johnson wurde per Gesetz daran gebunden, an diesem Tag um eine Verschiebung des Brexits anzusuchen, sollte das Parlament bis dahin dem ausgehandelten Abkommen nicht zustimmen. Damit steht der nächste Brexit-Showdown wohl unmittelbar bevor.

Ungemach droht Johnson auch von schottischer Seite: Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon will kommendes Jahr ein neues Referendum über eine Unabhängigkeit von Großbritannien abhalten, wie sie am Dienstag sagte. Bis zum Jahresende wolle sie die notwendigen Befugnisse für ein Referendum einholen. In ihrem ersten Unabhängigkeitsreferendum im September 2014 hatten sich 55 Prozent der Schotten für den Verbleib in Großbritannien ausgesprochen. Sturgeon macht aber geltend, dass sich die Lage nach dem Votum der Briten für einen EU-Austritt grundlegend geändert habe.