Jean-Claude Juncker
AP/Olivier Hoslet
„Wir haben einen“

Juncker und Johnson verkünden Brexit-Deal

Die Unterhändler der EU und Großbritanniens haben sich auf einen Brexit-Vertrag geeinigt. Das bestätigten Premierminister Boris Johnson und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Donnerstag. „Wo ein Wille ist, ist auch ein Deal – wir haben einen“, schrieb Juncker auf Twitter.

Juncker sprach von einer fairen und ausbalancierten Vereinbarung sowohl für die EU als auch für Großbritannien: „Es steht für unseren Einsatz, Lösungen zu finden.“ Er empfehle dem bevorstehenden EU-Gipfel, das Abkommen anzunehmen. Auch Johnson habe Zustimmung zu dem Deal signalisiert. Damit steigen die Chancen, dass auf dem Gipfel ein Austrittsabkommen zustande kommt und der britische EU-Austritt geregelt vollzogen werden kann.

Das britische Parlament solle die Vereinbarung am Samstag absegnen, sagte Johnson. Mit dem neuen Vertrag gewinne Großbritannien die Kontrolle über den Prozess zurück. Er sprach von einem „großartigen neuen Deal“. Dann könne sich Großbritannien „anderen Prioritäten“ wie den Lebenshaltungskosten, dem Gesundheitssystem, dem Kampf gegen Verbrechen und der Umweltpolitik zuwenden. Johnson will sein Land am 31. Oktober aus der Staatengemeinschaft führen. Wiederholt hatte er Brüssel mit einem ungeregelten Brexit gedroht. Für den Fall hatten Experten chaotische Verhältnisse für die Wirtschaft und zahlreiche andere Lebensbereiche vorhergesagt.

Barnier erklärt die gefundene Lösung

„Geduld ist eine Tugend. Ich habe bereits gesagt, dass der Brexit eine Schule der Geduld ist", so EU-Unterhändler Michel Barnier am Donnerstag in Brüssel bei seiner Pressekonferenz, bei der er auf Details des Abkommens vorstellte. „Der Text soll Rechtssicherheit für europäische Bürger in Großbritannien und britische Bürger in der EU garantieren. Ihre Rechte werden gewahrt bleiben", so Barnier. „Für mich ist es seit Tag eins (der Verhandlungen, Anm.) extrem wichtig, was mit den Menschen passiert – den Menschen in Nordirland und Irland. Was wirklich wichtig ist, ist Frieden“, so Barnier weiter.

EU-Chefunterhändler Michel Barnier
AP/Frank Augstein
Barnier erklärt in einer Pressekonferenz die Details des neuen Abkommens

Vieles in dem Abkommen könne auch schon in jenem Deal gefunden werden, der letztes Jahr ausgemacht worden sei, „aber gerade, was Nordirland und Irland anbelangt, haben wir auch Neues verankert“. Das Abkommen umfasse eine machbare Lösung, um eine harte Grenze in Irland zu vermeiden. Die britische Provinz Nordirland unterliege weiter einer begrenzten Zahl von EU-Regeln, vor allem bei Waren. Es werde eine Übergangsphase bis Ende 2020 geben. Eine harte Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland sei ausgeschlossen.

„Weg für Handelsabkommen geebnet“

Nordirland werde dazu begrenzt weiter EU-Regeln unterliegen und bilde das Eingangstor auf den EU-Binnenmarkt, so Barnier. Zugleich werde die Provinz aber auch der britischen Zollhoheit unterliegen. Damit sei ein faires Abkommen gefunden, um einen geordneten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union zu sichern.

Zugleich sei der Weg geebnet für ein Handelsabkommen der EU mit Großbritannien, in dem es weder Zölle noch Quoten gebe, sagte Barnier. So bald wie möglich könne man nun an einer neuen Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich arbeiten, so Barnier weiter. „Wir sind offen, eine ambitionierte Partnerschaft zu bilden mit dem Vereinigten Königreich, mit einem Freund, Partner, Verbündeten.“ Barnier appellierte an das britische Unterhaus, Verantwortung zu zeigen und das „faire und vernünftige Abkommen“ anzunehmen.

Weitere mögliche Szenarien bei Vorbereitung des geplanten EU-Austritts Großbritanniens (Pfeil-Grafik)
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

EU-Parlament: Sassoli offen für rasche Ratifizierung

EU-Parlamentspräsident David Sassoli signalisierte Bereitschaft, die Ratifizierung des neuen Brexit-Vertrags rasch in Angriff zu nehmen. Zunächst müsse man sich den Text genau anschauen und auch die Abstimmung im britischen Unterhaus abwarten, sagte Sassoli am Donnerstag in Brüssel. „Das Europäische Parlament steht natürlich bereit, seine Arbeit zu machen und seine Pflicht zu erfüllen.“ Das EU-Parlament tagt nächste Woche in Straßburg.

EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte, er bleibe optimistisch. Er ergänzte, es sei immer besser, einen Deal zu haben als keinen Deal. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach in einer ersten Reaktion von guten Nachrichten. Er äußerte sich zugleich zuversichtlich, dass das britische Parlament den neuen Scheidungsvertrag beschließen könne.

DUP und SNP gegen Abkommen

Doch durch die Einigung ist noch nicht alles geregelt. Johnsons Zugeständnisse an die EU könnten die nötige Unterstützung im britischen Parlament aufs Spiel setzen. Und tatsächlich formierte sich bereits eine Front gegen den neuen Deal. So lehnt die nordirische DUP eine Zustimmung ab. Dieser würde Nordirland schaden und die Integrität Großbritanniens bedrohen.

Die DUP hatte bereits Donnerstagfrüh gesagt, sie könne eine Brexit-Vereinbarung nach Stand der Dinge nicht unterstützen. So seien die Vorschläge zum Zoll nicht hinnehmbar, auch bei der Mehrwertsteuer gebe es Unklarheiten. Auch nach der von Juncker und Johnson verkündeten Einigung blieb die DUP bei ihrer Linie. Man bleibe bei der ablehnenden Haltung, so die Partei am Nachmittag: Man werde das Abkommen im Unterhaus nicht unterstützen.

Auch die linksliberale schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon sagte, ihre SNP werde nicht für das von Johnson ausgehandelte Abkommen stimmen. Sie forderte ein neues Unabhängigkeitsreferendum für Schottland. Beides schwere Schläge für Johnson, der den Vertrag noch durchs britische Unterhaus bringen muss und dort keine Mehrheit hat.

Labour fordert erneut zweites Referendum

Auch die größte Oppositionspartei winkte in Sachen Unterstützung bereits ab: Labour-Chef Jeremy Corbyn kritisierte kurz nach Bekanntwerden das Abkommen. Johnson habe einen noch schlechteren Deal ausgehandelt als seine Vorgängerin Theresa May. Deren Verhandlungsergebnis sei klar abgelehnt worden.

Das Parlament solle das Abkommen, das Johnson mit der EU ausgehandelt hat, zurückweisen. Es gefährde unter anderem die Sicherheit von Lebensmitteln, den Umweltschutz und die Rechte von Arbeitnehmern. Corbyn sprach von einem „Ausverkauf“. Das neue Abkommen könne Großbritannien nicht vereinen. Erneut forderte er ein zweites Brexit-Referendum. Der Chef der Brexit-Partei, Nigel Farage, rief dazu auf, Johnsons Abkommen abzulehnen. Der Deal bedeute keinen echten Austritt Großbritanniens aus der EU, sagte Farage.

Britisches Parlament könnte sich am Samstag treffen

Das britische Parlament soll auf einer Sondersitzung am Samstag über die angestrebte Vereinbarung abstimmen. Sie ist zwischen 10.30 und 15.00 Uhr MESZ angesetzt. Es ist die erste außerordentliche Sitzung an einem Samstag seit 37 Jahren. Zunächst soll am Donnerstag darüber abgestimmt werden, ob das Treffen stattfinden kann.

Die frühere Tory-Abgeordnete Anna Soubry bezeichnete die knapp fünf Stunden am Samstag als unzureichend. Johnsons Brexit-Deal sei schlechter als der seiner Vorgängerin Theresa May, der dreimal vom Parlament abgelehnt worden war. Die Zeit für unabhängige Bewertungen und Analysen sei zu knapp, schrieb Soubry auf Twitter. Sie führt eine Gruppe proeuropäischer ehemaliger Tory- und Labour-Abgeordneter an. Johnson hatte am Mittwoch in London für sein Abkommen geworben, unter anderem bei einem einflussreichen Komitee von Politikern seiner Partei im Unterhaus. Abgeordnete berichteten, dass er in einer Rede den Weg zum Deal mit einer Tour auf den Mount Everest verglich.