Kämpfe in Ras al-Ain
AP/Lefteris Pitarakis
Nordsyrien

Türkischer Vorstoß in Grenzstadt Ras al-Ain

Auch am achten Tag nach Beginn der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien ist die Grenzstadt Ras al-Ain Schauplatz heftiger Kämpfe. Mit Unterstützung aus der Luft drängten die türkische Armee und ihre Verbündeten am Donnerstag das von den Kurden geführte Bündnis SDF offenbar aus weiten Teilen der Stadt zurück. Kurdischen Angaben zufolge seien auch geächtete Waffen zum Einsatz gekommen.

Von „intensiven Kämpfen“ in Ras al-Ain berichtete am Mittwoch der im nordirakischen Erbil sitzende kurdische TV-Sender Rudaw. Mit Verweis auf Vertreter der autonomen nordsyrischen Kurdenregion berichtete Rudaw auch vom möglichen Einsatz verbotener Waffen wie Napalm und Phosphor.

„Im offensichtlichen Verstoß gegen das Recht und die internationalen Verträge wird die türkische Aggression gegen Ras al-Ain mit allen Arten von Waffen geführt“, zitierte AFP einen Vertreter der auch als Rojava bezeichneten autonomen Kurdenregion. Während auch ein Sprecher der Kurdenmiliz YPG der Türkei den Einsatz „unkonventioneller Waffen“ vorwarf, sprach die Türkei von „falschen Anschuldigungen“.

Syrische Soldaten
AP
Die türkische Armee und ihre Verbündeten haben am Donnerstag offenbar weite Teile von Ras al-Ain eingenommen

„Keine chemischen Waffen im Inventar“

„Es ist allgemein bekannt, dass die türkischen Streitkräfte keine chemischen Waffen in ihrem Inventar haben“, sagte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar nach einem Treffen mit dem US-Sicherheitsberater Robert O’Brien, der mit einer hochrangigen US-Delegation in Ankara war.

Netzwerk aus Informanten

Die Angaben der in Großbritannien sitzenden Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die sich auf ein Netzwerk aus Informanten in Syrien beruft, sind von unabhängiger Seite schwer überprüfbar.

Laut einem Vertreter der Gesundheitsbehörden von Rojava wird noch untersucht, „welche Art von Waffen gegen uns eingesetzt werden“. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Großbritannien gibt es keine Bestätigung, sehr wohl aber Indizien für die Vorwürfe: Verletzte seien mit Verbrennungen in ein nahe Ras al-Ain gelegenes Krankenhaus eingeliefert worden.

„Etwa die Hälfte der Stadt eingenommen“

Die YPG-Miliz hatte in den vergangenen Tagen in Ras al-Ain erbitterten Widerstand gegen die türkische Armee und deren Verbündete geleistet. Mit einem dichten Netz an Tunneln und Schützengräben hatten die Kämpfer rund eine Woche lang die Angreifer zurückgehalten. In ihrem jüngsten Vorstoß nahmen die türkischen Streitkräften und ihre Verbündeten nach Angaben der Beobachtungsstelle nun „etwa die Hälfte der Stadt ein“.

Die Situation sei „weiter schwierig“, hieß es dazu vonseiten der kurdischen Autonomieverwaltung. Deren Angaben zufolge seien viele Gebäude, „darunter auch ein Krankenhaus“, zunächst aus der Luft angegriffen worden – später habe ein „erbitterter Straßenkampf“ stattgefunden. Anderen Berichten zufolge habe die auf türkischer Seite kämpfende, immer wieder als Dschihadistengruppierung bezeichnete Syrische Nationalarmee (SNA) zudem mehrere Dörfer um Ras al-Ain unter ihre Kontrolle gebracht.

Kurden fordern humanitären Korridor

Die kurdische Selbstverwaltung forderte am Donnerstag indes einen humanitären Korridor, um Tote und Verletzte aus der belagerten Grenzstadt Ras al-Ain herauszubringen. Die Staatengemeinschaft müsse einschreiten, um „einen gesicherten humanitären Korridor zu öffnen, um die Märtyrer und verletzten Zivilisten aus der eingekreisten Stadt Ras al-Ain zu bringen“. Einem Kurdenvertreter zufolge seien „zahlreiche Zivilisten“ eingeschlossen, und Krankenwagen würden „systematisch bombardiert“.

Die Türkei hatte trotz internationaler Warnungen am Mittwoch vergangener Woche eine großangelegte Militäraktion gestartet, nachdem die USA mit dem Abzug ihrer Truppen aus Nordsyrien den Weg für eine türkische Invasion frei gemacht hatten. Trotz internationaler Kritik auch aus Washington kämpft die türkische Armee im Nachbarland gegen die YPG, die sie als Terrororganisation einstuft. Für die USA und andere westliche Staaten war die Kurdenmiliz hingegen jahrelang ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen die IS-Miliz.

„Traumszenario für geschwächten IS“

„Wir haben in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass der Kampf gegen den IS im Falle eines Angriffs des türkischen Staates für uns zur Nebensache wird“, zitierte die kurdische Nachrichtenagentur Firat SDF-Kommandeur Maslum Abdi, man habe nun „all unsere Aktivitäten gegen den IS eingefroren“.

Grafik zeigt Karte Syriens
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Der IS habe sich an vielen Orten neu organisiert, so Abdi. An vielen Orten sei es zu Anschlägen und Explosionen gekommen. Rund 12.000 IS-Mitglieder und ihre Angehörigen befänden sich noch in der Region. Auch die von den USA angeführte Anti-IS-Koalition schätzte die Zahl der IS-Angehörigen in Syrien und im Irak im Juni noch auf 14.000 bis 18.000 Personen.

Die verbleibenden Kräfte des IS seien nach den Worten des Nahost-Experten Charles Lister vom Washingtoner Middle East Institute (MEI) jedenfalls bereits auf Erholungskurs. Dazu komme „die Aussicht auf einen potenziell hartnäckigen türkisch-kurdischen und oppositionell-kurdischen Krieg“, was Lister als „Traumszenario für den geschwächten IS“ bezeichnete.

IS-Angriff auf Kurden in al-Rakka

Rund 12.000 IS-Kämpfer sitzen in Syrien in kurdischen Gefängnissen. Angesichts der türkischen Militärintervention in Nordsyrien besteht international die Befürchtung, dass die IS-Kämpfer fliehen und sich neu organisieren könnten. Auch der UNO-Sicherheitsrat warnte zuletzt vor der „Ausbreitung“ dschihadistischer Gefangener in der Region. Wie es in einer am Mittwoch veröffentlichten Erklärung hieß, äußerten die Mitglieder des Sicherheitsrats „große Besorgnis über das Risiko der Ausbreitung von Terroristen“, unter ihnen IS-Kämpfer.

In den vergangenen Tagen wurden bereits mehrere Ausbrüche und Fluchtversuche gemeldet. Insbesondere sollen knapp 800 Frauen und Kinder von IS-Kämpfern aus einem Lager bei Ain Issa geflohen sein. Am Donnerstag verkündete der IS über den Kurzmitteilungsdienst Telegram die „Befreiung“ von mehreren Frauen aus kurdischer Haft. IS-Kämpfer hätten ein Hauptquartier der kurdischen Sicherheitskräfte westlich von al-Rakka gestürmt und von den Kurden „entführte muslimische Frauen befreit“.

Neuerlich Flucht aus Kobane

Immer größer wird indes auch die Zahl der vor den neuen Kämpfen flüchtenden Menschen. Laut Beobachtungsstelle flüchteten seit Beginn der türkischen Militäroffensive bereits über 300.000 Menschen aus der Grenzregion. Wie die Organisation mitteilte, floh die Mehrzahl aus den umkämpften Gebieten um die syrischen Städte Tal Abjad und Kobane (Ain al-Arab) sowie aus der syrischen Provinz Hasaka.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat bisher von 160.000 in die Flucht getriebenen Zivilisten gesprochen. In einer gemeinsamen Erklärung warnten 14 Hilfsorganisationen bereits vor Tagen, 450.000 Menschen lebten innerhalb eines Streifens von fünf Kilometern entlang der syrisch-türkischen Grenze. Ihnen drohe Gefahr, „wenn nicht alle Seiten maximale Zurückhaltung üben und dem Schutz der Zivilisten Priorität geben“.