EU.Flaggen und britische Flaggen
Reuters/Tom Nicholson
Plan „A, B, C und D“

EU erörtert trotz Brexit-Deals Alternativen

Trotz des Brexit-Abkommens haben die EU-Staats- und -Regierungschefs nach Angaben des litauischen Präsidenten Gintanas Nauseda auf dem EU-Gipfel mehrere Alternativpläne erörtert. „Wir haben die meiste Zeit damit verbracht, die Szenarien A, B, C und D zu diskutieren“, sagte er litauischen Medienberichten zufolge in der Nacht auf Freitag vor Journalisten in Brüssel.

„Egal, wie selbstbewusst Mister Johnson – eine ziemlich charmante Persönlichkeit – ist, jeder denkt dennoch über alternative Szenarien nach“, sagte der Staatschef des baltischen EU- und NATO-Landes. „Wir versuchen wahrscheinlich, etwas Unvorhersehbares vorherzusagen.“ Im Rahmen des EU-Sondergipfels soll Insidern zufolge jedenfalls auch über eine mögliche Verschiebung geredet worden sein.

Der Brexit-Durchbruch war am Donnerstag kurz vor dem EU-Gipfel in Brüssel gelungen. Allerdings gab es in Großbritannien sogleich heftigen Widerstand gegen den ausgehandelten Brexit-Vertrag. Bis zur Abstimmung am Samstag im britischen Unterhaus wird Premierminister Boris Johnson versuchen, möglichst viele Abgeordnete von der Vereinbarung zu überzeugen.

Schlechte Position für Johnson

Johnsons Vorgängerin Theresa May war mit dem von ihr ausgehandelten Abkommen mit der EU gleich dreimal im britischen Parlament gescheitert. Die Ausgangsposition für Johnson ist – wenn man allein nach den Zahlen geht – seither nicht besser geworden: Selbst gemeinsam mit der nordirischen DUP, auf deren Unterstützung Johnson schon bisher angewiesen war, hat er keine Mehrheit im britischen Unterhaus.

Bereits unmittelbar nach Bekanntwerden der Einigung mit Brüssel wurde aus London scharf geschossen. Der Chef der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, bezeichnete den Deal als „noch schlimmer als den von Theresa May“, Parteikollegen äußerten sich im Laufe des Tages ähnlich. Auch die Chefin der Liberaldemokraten, Jo Swingon, sagte, das Abkommen sei „wirtschaftlich“ schlechter als der bisher auf dem Tisch gelegene Deal von Johnsons Vorgängerin.

Weitere mögliche Szenarien bei Vorbereitung des geplanten EU-Austritts Großbritanniens (Pfeil-Grafik)
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Johnson appelliert an Parlamentarier

Johnson appellierte am Abend an die Abgeordneten des Unterhauses: „Ich bin sehr zuversichtlich, dass meine Kollegen im Parlament, wenn sie diese Vereinbarung prüfen, am Samstag und in den Folgetagen dafür stimmen werden“, so der Premier. In Richtung der DUP sagte er, dass man die EU „als ein Vereinigtes Königreich“ verlassen werde und damit „unsere Zukunft gemeinsam bestimmen“ könne.

Britischer Premier Boris Johnson und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
APA/AFP/Kenzo Tribouillard
Johnson und Juncker zeigten sich am Donnerstag zufrieden über das Ergebnis

Unterstützung für sein Vorhaben erhielt Johnson vom scheidenden EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Dieser sagte, dass er eine weitere Verschiebung des Brexits vonseiten der EU „ausschließe“. „Wenn wir einen Deal haben, dann haben wir einen Deal, und es braucht damit keine Verlängerung“, so Juncker. Nur: Ein Aufschub liegt nicht in der Hand der Kommission – sondern ist Sache des Europäischen Rats, also der einzelnen Mitgliedsländer.

House of Commons

Das House of Commons, das britische Unterhaus, hat insgesamt 650 Sitze. Die Abgeordneten der Sinn-Fein-Partei stimmen traditionell nicht mit, genauso wie sich der Speaker und seine drei Stellvertreter der Stimme enthalten.

320 „Ayes“ benötigt

Die Abstimmung über Johnsons Deal wird im britischen Parlament zum Zahlenkrimi. Damit der neue Deal das Parlament passiert, müssen 320 Abgeordnete – bei voller Anwesenheit – für den Deal stimmen. Johnsons Konservative Partei hat momentan 287 Abgeordnete – nicht annähernd genug, um diese Grenze zu überschreiten. Wenn die DUP wie angekündigt gegen Johnsons Deal stimmt, steht Johnson vor einer unangenehmen Aufgabe: Er wird bei jenen Parteimitgliedern, die er aus dem Klub der Konservativen geworfen hatte, um Unterstützung ansuchen müssen. Medienberichten zufolge könnte er ihnen im Gegenzug die Wiederaufnahme in Aussicht stellen.

Selbst wenn sich die 23 Ex-Torys geschlossen hinter Johnson stellen, fehlen ihm immer noch einige Stimmen. Damit wird er auch bei Labour und den unabhängigen Abgeordneten im Parlament auf die nötigen „Ayes“ für seinen Deal hoffen müssen. Die BBC schreibt, dass beim letzten Votum für Mays Deal im März immerhin fünf Labour-Abgeordnete und zwei Unabhängige für ihren Deal gestimmt haben. Ein Krimi am Samstag im Rahmen der ersten Samstag-Sondersitzung seit 37 Jahren ist damit jedenfalls praktisch fix.

TV-Hinweis

ORF2 beschäftigt sich am Samstag ab 9.05 Uhr in mehreren Sendungen mit dem Brexit.

Unterstützung bekam Johnson bereits vom erzkonservativen Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg: „Ich bin sehr glücklich über den Deal, den Premierminister Boris Johnson mit der Europäischen Union erreicht hat“, sagte Rees-Mogg. Er könne dieses Abkommen mit Begeisterung empfehlen. Auch der frühere Premier David Cameron bewertete den am Donnerstag geschlossenen Brexit-Vertrag positiv. Wäre er noch Abgeordneter, würde er für den Deal stimmen, sagte Cameron.

Die Angst vor dem „No“

Unklar ist, was passiert, wenn das Unterhaus den neuen Deal ablehnt. Prinzipiell ist die Regierung durch den „Benn Act“ rechtlich daran gebunden, um eine Verlängerung bei der EU anzusuchen. Im Vorfeld wurde jedoch häufig darüber diskutiert, dass das aber nicht automatisch eine Verlängerung bedeuten müsse – nicht zuletzt müssen ja auch die EU-Staaten diesem Ansuchen zustimmen.

Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein zeigt sich für die Abstimmung im britischen Unterhaus zuversichtlich. „Ich gehe davon aus, dass das Unterhaus diesen Beschluss annimmt“, lautete Bierleins Einschätzung am Donnerstagabend in Brüssel. Ob es bei einer Ablehnung im britischen Unterhaus einen Sondergipfel des Europäischen Rates geben wird, wollte Bierlein nicht vorhersagen.

„Brexit ist etwas politisch Bescheuertes“

Dass die Übereinkunft ein Chaos und Konflikte zwischen der EU und Großbritannien verhindere, sagten am Donnerstag neben Juncker jedenfalls auch Ratspräsident Donald Tusk, Brexit-Chefverhandler Michel Barnier und Irlands Premier Leo Varadkar.

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn sagte, er hoffe ebenfalls auf die Zustimmung des Parlaments. „Brexit ist etwas politisch Bescheuertes“, sagte er Freitagfrüh. Es sei aber die Aufgabe der EU, auch kleine Mitgliedsstaaten zu schützen. Dazu gehöre auch, den Frieden in Irland zu wahren. „Der neue Brexit-Deal kann das leisten“, so Asselborn.