Mann und Frau vor Gericht
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Justiz

Der Schwund der Gerichtsdolmetscher

Justizbehörden sehen den Rechtsstaat in Gefahr. An allen Ecken und Enden wird gespart, Posten werden nicht nachbesetzt. Vom „Notstand an den Gerichten“ und „stillen Tod der Justiz“ ist die Rede. Wie genau sich das in der Praxis äußert, zeigt sich besonders an den zertifizierten Gerichtsdolmetschern und -dolmetscherinnen.

Gerichte und Behörden, wie etwa die Polizei, greifen auf Dolmetscher zurück, wenn Zeugen oder Verdächtige kaum oder gar nicht Deutsch sprechen. Das ist in der Strafprozessordnung im Paragraf 56 geregelt. Zumeist werden zertifizierte Sprachmittler geholt, also jene, die eine mehrjährige Ausbildung hinter sich haben und eine Prüfung ablegten. Doch seit Jahren wenden sich Richter und die Polizei an Dolmetscher, die nicht zertifiziert sind und die Usancen der Justiz nicht kennen. Der Grund: Österreich gehen die Zertifizierten aus.

In den vergangenen 13 Jahren hat sich die Zahl der Dolmetscher laut dem Verband der allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Gerichtsdolmetscher (ÖVGD) halbiert. 2006 zählte man bundesweit 1.400 qualifizierte Sprachmittler, heute noch etwa mehr als 720, die den per Bundesgesetz geregelten Anforderungen entsprechen. Die Zahl wird in naher Zukunft aber nicht steigen. Der Altersschnitt im ÖVGD, wo 530 Gerichtsdolmetscher Mitglied sind, liegt bei 60 Jahren. Viele stehen vor der Pension, aber Nachwuchs ist kaum vorhanden.

Gebühren seit 2007 nicht angehoben

Die aktuelle Situation der Dolmetscher setzt sich aus unterschiedlichen Faktoren zusammen, Geld ist einer davon. Wenn Sprachmittler für das Gericht oder eine Behörde dolmetschen, werden sie nach den Tarifen im Gebührenanspruchsgesetz 1975 entlohnt. Für die erste halbe Stunde gibt es 24,50 Euro, jede weitere wird mit 12,40 Euro abgegolten. Bei einer schriftlichen Übersetzung – etwa bei wesentlichen Aktenstücken – erhält der Sprachmittler, der auch als Übersetzer tätig ist, 15,20 Euro für je 1.000 Schriftzeichen, ohne Leerzeichen.

ÖVGD-Präsidentin Dr. phil. Andrea Bernardini
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ÖVGD-Präsidentin Bernardini kritisiert das fehlende Budget in Justiz

Die Gebühren seien für junge Beamte gedacht gewesen, die sich durch die Übersetzung ein Zubrot verdienen wollten, so Andrea Bernardini, Präsidentin des ÖVGD, im Gespräch mit ORF.at. Aber gegenwärtig sei ein guter Teil hauptberuflich Gerichtsdolmetscher. Für Freiberufler sei die Gebühr viel zu niedrig. Dass der Tarif seit 2007 nicht mal mehr an die Inflationsrate angepasst wurde, kritisiert der Verband. Über die Jahre hätte sich bereits eine Erhöhung von 22,6 Prozent angesammelt.

Doch bisher habe man die Forderungen nicht anbringen können. Zwar gab es in letzter Zeit immer wieder Gespräche in den Ministerien, aber finanziell habe es nichts zu holen gegeben. „Wenn wir im Justizressort unsere Forderungen anbringen, schickt man uns zum Finanzminister. Er sagt dann, dass das Budget bereits verabschiedet ist“, erzählt die seit Jahrzehnten als Gerichtsdolmetscherin tätige Liese Katschinka, die auch ÖVGD-Vorstandsmitglied ist. Man werde seit Jahren zwischen Justizressort und Finanzministerium hin und her geschickt.

ÖVGD-Präsidentin Bernardini fordert mehr Dolmetscher

Die Präsidentin des Gerichtsdolmetscherverbandes, Andrea Bernardini, fordert mehr qualifizierte Sprachmittler für Gerichte und Behörden. Das sei die Aufgabe des Rechtsstaates, so Bernardini.

Wahrnehmungsbericht der Justiz

Über das Budget klagen nicht nur die Gerichtsdolmetscher. Richter, Staatsanwälte, Rechtspfleger und Kanzleimitarbeiter fordern von der Politik seit Jahren ein Bekenntnis zum „funktionierenden Rechtsstaat“. Was nichts anderes bedeutet als eine Forderung nach mehr Mitteln für die Justiz. Doch mehr als Worte sind bisher nicht geflossen. Anfang des vergangenen Jahres kam es wegen des fehlenden Budgets im Ressort zu „Missverständnissen“ zwischen dem damaligen Beamtenminister Heinz-Christian Strache (FPÖ) und Ex-ÖVP-Justizminister Josef Moser.

Auch die Beamtenregierung unter Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein ist sich der angespannten Lage im Justizwesen bewusst. Gegenüber ORF.at hieß es aus dem Justizministerium etwa, dass es für die Branche eine „Attraktivierung“, also Erhöhung der Gebühren, benötige, man als Übergangsregierung allerdings keine aktiven Schritte setzen werde. In einem im November veröffentlichten Wahrnehmungsbericht wurde auf die prekäre Situation der Gerichtsdolmetscher eingegangen. Es gebe einen „eklatanten Mangel“ an Dolmetschern, heißt es etwa darin.

Auszug aus dem Sachverständigen- und DolmetscherG GebührenansrpuchsG
ORF.at/Lukas Krummholz
Die Gebühren für die Gerichtsdolmetscher wurden seit 2007 nicht mehr angehoben

Dass die Branche eine „Attraktivierung“ nötig habe, weiß man im Dolmetscherverband aber schon längst. Höhere Gebühren könnten dabei helfen, die Jugend oder bereits ausgebildete Dolmetscher für den Beruf bzw. die Zertifizierung zu begeistern. Angesichts solcher finanziellen Aussichten sei das Interesse, die Prüfung abzulegen, derzeit sehr gering. Aber gerade diese muss man bestehen, um auf die so wichtige Liste der Gerichtsdolmetscher der Justiz zu kommen.

Hohe Anforderungen für Gerichtsdolmetscher

Warum diese Liste so wichtig ist, ist schnell erklärt. Diese ist nämlich „tagesaktuell“ und wird von den Gerichten laufend gewartet. Richter und Behörden greifen für gewöhnlich auf die Dolmetscher zurück, die hier – oder auf der Website des ÖVGD – gelistet werden. Mehr als 50 Sprachen werden angeboten, darunter Farsi und Mazedonisch. Für einige Sprachen gibt es allerdings nur einen Dolmetscher, wie etwa für Dari und Paschtu – afghanische Sprachen. Doch im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) sind Afghanischdolmetscher begehrt.

Gerichtsdolmetscherin warnt vor Qualitätseinbußen

ÖVGD-Präsidentin Andrea Bernardini bezeichnet sich als „heillose Optimistin“. Als Gerichtsdolmetscherverband werde man weiter für bessere Bedingungen kämpfen.

Im Innenministerium liegt seit Mai 2018 deshalb eine eigene Liste mit mehr als 3.700 Dolmetschern für 176 Sprachen auf. Diese würden ein „breites Spektrum an Qualifikationen“ abdecken, heißt es aus dem Innenressort – von Sprachzertifikaten, Spezialausbildungen bis zu diplomierten Hochschulabsolventen und gerichtlich zertifizierten Dolmetschern. Beim Neuaufnahmeverfahren werde die Kompetenz überprüft, so eine Sprecherin zu ORF.at.

Die Gerichtsdolmetscher begrüßen zwar das Dolmetschregister, sagen aber auch, dass der Großteil auf der Liste nicht die Qualifikationen mit sich bringt, die von Gerichtsdolmetschern verlangt werden: ein Abschluss in Translationswissenschaft und zwei Jahre Berufserfahrung. Oder alternativ ein anderes Studium und fünfjährige Praxis. Und am Ende die Zertifizierungsprüfung, die sich aus schriftlichem Übersetzen, mündlichem Dolmetschen, einem Rollenspiel vor Gericht und einem juristischen Fragebogen zusammensetzt.

Verfahrensmängel und Fehlurteile

Erst dann ist man zertifizierter Gerichtsdolmetscher. Aber, das fragt sich der ÖVGD, warum sollte sich jemand für eine Ausbildung und Prüfung, die auch 400 Euro kostet, entscheiden, wenn er vom Innenministerium auch ohne Zertifizierung genommen wird? Die Gerichte und Behörden würden zwar die Listen des Justizministeriums und des ÖVGD durchtelefonieren, aber wenn niemand Zeit hat, werden minderqualifizierte Personen herangezogen. Bei Polizeieinvernahmen werden ohnehin eigene Dolmetscher geholt.

Grundsätzlich sei gegen die Leistung von Laiendolmetscher nichts einzuwenden. „Natürlich kann jemand, der die Sprache beherrscht, auch zum Dolmetschen eingesetzt werden“, sagte Dolmetscherin Katschinka. Aber für die Rechtsstaatlichkeit sei ein professionell agierender Dolmetscher, der rasch und präzise dolmetscht, wichtig. „Wenn jemand falsch dolmetscht, dann kommt es zu Fehlurteilen und Verfahrensmängeln. Ganze Strafprozesse müssen wiederholt werden.“

Gerichtsdolmetscherin Liese Katschinka im Gespräch mit ORF.at
ORF.at/Lukas Krummholz
Für das Dolmetschen im Gerichtssaal benötigt man besondere Qualifikationen, sagt Englisch-Gerichtsdolmetscherin Katschinka

Erst vor wenigen Wochen sorgte der Fall eines Philippiners, der des versuchten Doppelmords verdächtigt wurde, für heftige Kritik der Gerichtsdolmetscher. Für die Einvernahme wurde ein Englischdolmetscher geholt, obwohl der Philippiner kein Englisch sprach. Erst in der Wiener Justizanstalt Josefstadt wurde der Fehler bemerkt. Laut der Anwältin des Verdächtigen legte ihr Mandant so ein „falsches Geständnis“ ab. Am Ende wurde er freigesprochen.

Bernardini will weiter Forderungen stellen

„Es ist schockierend für einen Rechtsstaat, dass so etwas überhaupt möglich ist. Dass man erst in der Justizanstalt draufkommt, dass er weder Englisch spricht noch versteht, ist ein Skandal“, sagte ÖVGD-Präsidentin Bernardini. Wie oft solche Fälle vorkommen, könne sie aber nicht sagen. Auf der eigenen Liste habe man jedenfalls einen zertifizierten Philippinischdolmetscher. Dass bei diesem Fall niemand vorher interveniert hat, verstehe sie nicht. „Wir haben einen Eid abgelegt, dass wir nach bestem Wissen und Gewissen dolmetschen.“

Sie werde auch in Zukunft die Rechtsstaatlichkeit einfordern, so Bernardini. „Dass wir hier so herumreden müssen, ist doch unglaublich. Stellen Sie sich vor, Sie fahren in ein Land, dessen Sprache Sie nicht verstehen und Sie haben einen Verkehrsunfall“, so die Gerichtsdolmetscherin. Wenn man zum ersten Mal vor Gericht steht, sei man nervös, so ihre Kollegin Katschinka. „Und um wie viel größer ist erst die Nervosität, wenn man als Ausländer vor einem Gericht steht, wo man nichts versteht und man nicht verstanden wird?“