ÖVGD-Präsidentin Dr. phil. Andrea Bernardini
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Gerichtsdolmetscher

„Schockierend für einen Rechtsstaat“

Andrea Bernardini und Liese Katschinka sind ausgebildete Gerichtsdolmetscherinnen. Im Gespräch mit ORF.at gehen die beiden nicht zimperlich mit der Justizverwaltung in Österreich um. Sie beklagen, dass ihre Branche ausgespart wird und so die Rechtsstaatlichkeit ins Wanken gerät. Denn qualifizierte Gerichtsdolmetscher gebe es immer weniger.

ORF.at: Seit Jahren sehen Justizbehörden den Rechtsstaat in Gefahr. Es wird zu viel gespart und nicht investiert. Als Gerichtsdolmetscherinnen tragen Sie einen Teil zum Rechtsstaat bei. Wie sehen Sie die aktuelle Situation?

Andrea Bernardini: Wir können dem aus unserem Berufsstand nur zustimmen. Die Rechtsstaatlichkeit in Österreich gerät ins Wanken, wenn es nicht genügend zertifizierte Gerichtsdolmetscher gibt. Deshalb haben wir uns auch an Bundespräsident Alexander Van der Bellen gewandt.

ORF.at: Was hat Van der Bellen geantwortet?

Liese Katschinka: Er hat innerhalb einer Woche geantwortet. Er sei informiert, dass die Justiz Probleme hat und dass er darauf achten werde, dass das im nächsten Regierungsprogramm einigermaßen berücksichtigt wird.

Bernardini: Wenn Sie uns hier so sitzen sehen, sehen Sie zwei ganz typische Gerichtsdolmetscherinnen. Wir sind nicht mehr jung. Das ist das Problem. Es herrscht eine Überalterung bei den zertifizierten Gerichtsdolmetschern. Immer weniger Junge wollen die Prüfung ablegen. Unsere Liste wird immer kürzer, aber das Behördendolmetschregister des Innenministeriums ist gut bestückt.

ÖVGD-Präsidentin Dr. phil. Andrea Bernardini und Gerichtsdolmetscherin Liese Katschinka im Gespräch mit ORF.at
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Bernardini (li.) ist Italienischdolmetscherin und Präsidentin des Österreichischen Verbands der allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Dolmetscher (ÖVGD), Katschinka ist Englischdolmetscherin und Mitglied des ÖVGD-Vorstandes

ORF.at: Wenn ein Verdächtiger, der eine andere Sprache spricht, wegen eines Verbrechens einvernommen wird oder vor Gericht steht, werden Gerichtsdolmetscher wie Sie kontaktiert.

Bernardini: Es sollte so sein. Die Behörden sollten an zertifizierte Dolmetscher herantreten. Das Innenministerium hat aber ein eigenes Behördendolmetschregister, das umfasst 3.500 Personen. Beim Bundesverwaltungsgericht gibt es eine Liste mit 985 Personen, die auch in einst exotischen Sprachen dolmetschen. Wir haben aber nur 720 Gerichtsdolmetscher, die auch eine umfangreiche Prüfung ablegten. Von denen sind 530 im Verband organisiert.

Katschinka: Im Register des Innenministeriums wurden vorhandene Listen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und der Polizeidirektionen zusammengeführt. Es sind aber nicht alle zertifizierten Gerichtsdolmetscher auf dieser Liste.

ORF.at: Wieso glauben Sie, dass das Innenressort sein eigenes Dolmetschregister heranzieht, obwohl es ja Ihren Verband gibt, dem ausschließlich Zertifizierte angehören?

Bernardini: Damit die Polizisten jemanden zum Dolmetschen finden.

ORF.at: Aber dafür gibt es ja den Gerichtsdolmetscherverband.

Katschinka: Das reicht nicht aus. Wir sind 720 zertifizierte Gerichtsdolmetscher. Aber es gibt einfach zu viel zu tun, um alles mit uns abzudecken. Wir fordern ja mehr Gerichtsdolmetscher, die auch eine Ausbildung als Dolmetscher und Übersetzer absolviert haben. Für den Rechtsstaat ist ein qualifiziertes Personal notwendig.

ÖVGD-Präsidentin Bernardini fordert mehr Dolmetscher

Die Präsidentin des Gerichtsdolmetscherverbandes, Andrea Bernardini, fordert mehr qualifizierte Sprachmittler für Gerichte und Behörden. Das sei die Aufgabe des Rechtsstaates, so Bernardini.

ORF.at: Aber im Innenministerium gibt es offenbar genug Dolmetscher. Anders lässt sich die Liste mit 3.500 Leuten nicht verstehen.

Bernardini: Als wir im vergangenen Jahr angefragt haben, ob man uns beim Dolmetscherschwund helfen kann, teilte uns das Innenministerium mit, dass man nicht von Schwund reden kann. Für die afghanischen Sprachen habe man derzeit 280 Leute, und die seien zwischen 35 und 40 Jahre alt, aber nicht zertifiziert. Also das Innenministerium hat offenbar kein Schwundproblem.

Katschinka: Aber es gibt eben mehrere Listen. Und warum sollten Dolmetscher eine anspruchsvolle Zertifizierungsprüfung ablegen, wenn sie von der Polizei ohnehin genommen werden?

Bernardini: Ich finde, es wäre die Aufgabe des Rechtsstaates, dass die Gerichtsdolmetscherliste vollständig ist, mit vielen Sprachen und mehreren Personen in allen Städten, in denen es Gerichte gibt. Das findet nicht statt. Die Justizverwaltung bremst so wahnsinnig. Sie stattet uns nicht mit Mitteln aus.

ORF.at: Es heißt aber auch, dass die Zertifizierungsprüfung des ÖVGD so schwierig ist.

Bernardini: Das stimmt, sie wird gefürchtet. Es wird jedoch sehr realitätsbezogen geprüft: schriftliches Übersetzen in beide Richtungen, Vom-Blatt-Dolmetschen in beide Richtungen, ein Rollenspiel einer Gerichtsverhandlung und ein Fragebogen juristischer Art. Der wird vom Prüfungsvorsitzenden, einem Richter, ausgearbeitet. Die Prüfung ist aber im Vergleich zum Alltag einer Gerichtsdolmetscherin einfach.

ORF.at: Was spricht für Sie gegen Dolmetscher, die nicht zertifiziert sind? Wenn jemand die Sprache, die im Gerichtssaal gerade gebraucht wird, kann, dürfte das doch kein Problem sein.

Katschinka: Natürlich kann jemand, der die Sprache beherrscht, auch zum Dolmetschen eingesetzt werden. Das klingt dann vielleicht holprig und der Sprachkundige gibt nicht zu 100 Prozent den Inhalt wieder, weil es zu viele Fachtermini in der Justiz gibt und er keine Berufserfahrung als Dolmetscher hat, es mag auch länger dauern.

Aber für die Rechtsstaatlichkeit ist genau das wichtig: ein professionell agierender Dolmetscher. Es muss rasch gehen und es muss präzise sein. Wenn jemand falsch dolmetscht, dann kommt es zu Verfahrensmängeln und Fehlurteilen. Ganze Strafprozesse müssen wiederholt werden.

Gerichtsdolmetscherin Liese Katschinka im Gespräch mit ORF.at
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Für Katschinka ist klar, dass die niedrigen Honorare eine Ursache für den Schwund in der Branche sind

Bernardini: Interessant ist, dass vor allem Juristen, die im Ausland studiert oder gewohnt haben, den Standpunkt vertreten, sie könnten die Fachterminologie aus dem Effeff dolmetschen. Was die meisten von ihnen aber nicht beherrschen, das sind die Dolmetschtechniken. Wie man etwa beim Konsekutivdolmetschen Notizen macht, um anschließend alles von einer Partei Gesagte wiedergeben zu können. Unter Umständen muss simultan gedolmetscht werden, und zwar flüsternd.

Katschinka: Und es braucht auch eine kulturelle Kompetenz. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Behörden zu schnell zum Kern der Dinge vordringen wollen. Doch dann nicken die verhörten Personen einfach, weil sie nicht unhöflich sein wollen oder eingeschüchtert sind. Um die Einvernahme bei der Polizei hinter sich zu bringen, sagen sie schnell mal Ja. Ich habe oft erlebt, dass in der Gerichtsverhandlung dann das bei der Polizei Gesagte widerrufen wurde.

ORF.at: Es gab vor wenigen Wochen einen Fall eines Philippiners, der wegen eines versuchten Doppelmords einvernommen wurde. Das Verfahren endete mit Freispruch, laut Polizei gab er aber an, aus Notwehr gehandelt zu haben. Erst später stellte sich heraus, dass zur Einvernahme ein Dolmetscher für Englisch geholt wurde, obwohl der Mann kein Englisch konnte.

Bernardini: Es ist schockierend für einen Rechtsstaat, dass so etwas überhaupt möglich ist. Dass man erst in der Justizanstalt draufkommt, dass er weder Englisch spricht noch versteht, ist ein Skandal. Er hat sich überhaupt nicht verständlich machen können und hat sich bestimmt nicht getraut, war eingeschüchtert.

Katschinka: Wir haben einen zertifizierten Dolmetscher für Philippinisch auf unserer Liste. Er war es nicht. Es dürfte sich um einen aus Somali stammenden Polizeidolmetscher gehandelt haben.

ORF.at: Der versuchte, auf Englisch mit dem Philippiner zu kommunizieren.

Katschinka: Es ist nicht unüblich, dass Dolmetscher von „exotischeren Sprachen“ auch Englisch dolmetschen. Englisch wird oft für Afrikaner herangezogen, weil es in Österreich entweder keine Dolmetscher für ihre Muttersprache gibt, oder nur einen, der aber gerade nicht verfügbar ist.

ORF.at: Wie viele solche Fälle gibt es denn?

Bernardini: Das können wir nicht sagen. Wir als zertifizierte Dolmetscher haben einen Eid abgelegt, dass wir nach bestem Wissen und Gewissen dolmetschen. Ich zerreiße mich quasi, um eine gute Arbeit abzugeben. Dabei geht es nicht nur um das Fachliche, sondern auch um die Ethik. Viele Angeklagte betrachten uns als Rettungsanker und fragen zum Beispiel, was wir an ihrer Stelle tun würden, wie wir antworten würden. Das ist aber nicht unsere Aufgabe. Wir dürfen nicht Partei ergreifen, subjektiv agieren, das wäre unprofessionell.

Gerichtsdolmetscherin warnt vor Qualitätseinbußen

ÖVGD-Präsidentin Andrea Bernardini bezeichnet sich als „heillose Optimistin“. Als Gerichtsdolmetscherverband werde man weiter für bessere Bedingungen kämpfen.

Katschinka: Dieses Wissen um die eigene Neutralität fehlt vielen Kollegen und Kolleginnen, die nicht zertifiziert oder entsprechend ausgebildet sind. Vertraulichkeit, Neutralität und das Verhalten im Gerichtssaal sind wesentliche Punkte unserer Berufsethik.

ORF.at: Wie oft kommt es vor, dass ein Laiendolmetscher vor Gericht dolmetscht?

Bernardini: Wenn es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, dann wird der Richter wohl einen zertifizierten Dolmetscher aussuchen. Weil er aber völlig weisungsungebunden ist, kann er auch einen Dolmetscher ad hoc vereidigen.

Katschinka: Bei der Polizei ist das anders. Bei der Einvernahme holen sie meistens eigene Dolmetscher. Das kann ein zertifizierter Dolmetscher sein, muss es aber nicht. Oft werden Dolmetscher um drei in der Früh gebraucht, dann ist natürlich nicht jeder bereit, quer durch Wien zu fahren, um zu den niedrigen Gebühren zu dolmetschen.

ORF.at: Sie beklagen seit Jahren die für Sie zu niedrigen Gebühren.

Bernardini: Das sind Gebühren, die früher für junge Männer gedacht waren, die Beamte waren und sich ein Zubrot durch Übersetzung verdienten. Das ist heute nicht mehr der Fall. Ein guter Teil von uns ist hauptberuflich Gerichtsdolmetscherin.

ÖVGD-Präsidentin Dr. phil. Andrea Bernardini und Gerichtsdolmetscherin Liese Katschinka im Gespräch mit ORF.at
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Die Gerichtsdolmetscher haben eine jahrelange Ausbildung und eine umfangreiche Zertifizierungsprüfung hinter sich

Katschinka: Seit 2007 wurden diese Gebühren nicht mehr angehoben. Nicht einmal inflationsbereinigt, wir warten auf 22,6 Prozent. Wenn wir im Justizministerium unsere Forderungen anbringen, schickt man uns zum Finanzminister. Dann pilgern wir hin, und der Finanzminister sagt, dass das Budget bereits verabschiedet ist. Dann kommen wir beim nächsten Mal früher, und im Finanzministerium fragt man uns dann: „Haben Sie schon mit dem Justizministerium gesprochen?“ So geht es hin und her.

ORF.at: Sie glauben, mit höheren Gebühren würden mehr Personen zur Zertifizierungsprüfung antreten?

Katschinka: Der Beruf wäre bestimmt attraktiver. Vor allem bei den Sprachen, wo ein großer Bedarf besteht und wir wenig bis gar keine Dolmetscher haben.

ORF.at: Wären Sie bereit, Ihre Prüfung zu vereinfachen, wie ja bereits von mehreren Seiten vorgeschlagen wurde?

Bernardini: Nein. Warum Gerichtsdolmetschende hohen Ansprüchen genügen müssen, haben wir ja schon erläutert. Aber wir könnten uns vorstellen, die Prüfung in Dolmetschen und Übersetzen zu trennen. Fürs Dolmetschen gäbe es dann die Zertifizierung light. Denn jene, die beim Schriftlichen scheitern, sind meist nicht deutscher Muttersprache, aber dolmetschen können manche wunderbar. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber das ist noch Zukunftsmusik, das müssten wir zuerst institutionalisieren.

Katschinka: Aber es braucht auch die Weiterbildung. Dolmetschen im Asylamt ist nicht gleichzusetzen mit dem Dolmetschen vor Gericht. Es muss auch die Notizentechnik beherrscht werden. Sonst kommt es zu mehrdeutigen oder schwammigen Übertragungen in die andere Sprache. Konsekutivdolmetschen ist beinahe eine sportliche Tätigkeit, quasi ein intellektueller Marathon.

ORF.at: Es scheint, als wären Sie mit Ihrer Verhandlungsposition unzufrieden. Welche Stellung nehmen die Gerichtsdolmetscher im Justizapparat überhaupt ein?

Katschinka: Nicht unbedingt auf gleicher Augenhöhe. In vielen Fällen wird man …

Bernardini: … als lästiges Anhängsel angesehen, weil es mit uns ja länger dauert. Ich würde sagen, wir sind wie ein Katalysator in der Chemie, der im Endergebnis nicht aufscheint. Das ist unsere Aufgabe. Wir sollen Reaktionen herbeiführen, wir sind nur als Funktion vorhanden, nicht als Person.

Katschinka: Man sagt immer, der beste Dolmetscher ist der, den man nicht sieht und nicht hört.

ORF.at: Haben Sie noch Hoffnung, dass Sie mit Ihren Forderungen gehört werden?

Bernardini: Ich bin eine heillose Optimistin.

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Derzeit gibt es laut Justizministerium 720 zertifizierte Gerichtsdolmetscher in ganz Österreich

Katschinka: Die Hoffnung stirbt zum Schluss.

Bernardini: Warum sollen wir nicht versuchen, bessere Bedingungen durchzubringen? Ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit. Dass wir hier so herumreden müssen, ist doch unglaublich. Das ist etwas Essenzielles. Stellen Sie sich vor, Sie fahren in ein Land, dessen Sprache Sie nicht verstehen und Sie haben einen Verkehrsunfall.

Katschinka: Dann sitzen Sie im Gefängnis, wissen nichts, nicht, was mit Ihnen passiert, bloß weil nie jemand kommt, der Ihnen erklären kann, was los ist.

Bernardini: Oder die Brieftasche wird Ihnen gestohlen. Ganz alltägliche Beispiele. Aber in einem Land, wo man die Schrift nicht lesen kann und die Sprache nicht versteht, das ist ja schrecklich.

Katschinka: Und dann stellen Sie sich vor, Sie stehen vor Gericht, zum ersten Mal in Ihrem Leben. Man ist zum einen angespannt, zum anderen aber auch frustriert. Ob als Zeuge oder Angeklagter. Und um wie viel größer ist erst die Nervosität, wenn man als Ausländer vor einem Gericht steht, wo man nichts versteht und man nicht verstanden wird?