Britischer Premier Boris Johnson
Reuters/Toby Melville
„Super Saturday“

Countdown zur Brexit-Abstimmung

Das britische Parlament tagt erstmals seit 37 Jahren wieder an einem Samstag – damals waren es die Falklandinseln, nun stimmen die Abgeordneten in London über den neuen Brexit-Deal von Premierminister Boris Johnson ab. Fest steht bisher eigentlich nur eines: Ab 10.30 Uhr MESZ tagt das Unterhaus. Ablauf, Ausgang und vor allem die Folgen der Sondersitzung sind komplett offen. Mit dem Beginn der Abstimmungen wird gegen 15.30 Uhr (MESZ) gerechnet.

1.213 Tage nach dem Referendum kommt es damit jedenfalls zum nächsten – und, wenn es nach Johnson geht, letzten – Brexit-Showdown. Erster Punkt des von den Medien betitelten „Super Saturday“ ist eine Rede des Premiers, in der er noch einmal seinen Deal vorstellen wird – wohl auch, um bis dahin noch unentschlossene Abgeordnete auf seine Seite zu ziehen.

Johnson: „Schmerzhaftes Kapitel“ beenden

In einem Brief, der am Samstag in der „Sun“ veröffentlicht wurde, appellierte Johnson nochmals an die Abgeordneten, für seinen Brexit-Deal zu stimmen. „In weniger als zwei Wochen, am 31. Oktober, würden wir dann schon aus der EU sein“, schrieb Johnson. Damit könnte ein „schmerzhaftes Kapitel“ in der britischen Geschichte beendet werden. Es handle sich um ein „großartiges Abkommen“ für jeden Teil des Landes.

Erst nach der Johnson-Rede wird sich entscheiden, worüber letztlich abgestimmt wird: Neben dem von Johnson ausgehandelten Deal kann Parlamentspräsident John Bercow auch Abänderungsanträge zur Abstimmung bringen. Darunter befinden sich wenig aussichtsreiche, wie etwa der Vorschlag, Artikel 50 und damit den Brexit komplett zurückzuziehen, aber auch solche, denen eine Chance über Parteigrenzen hinweg eingeräumt wird. Vor allem der Vorschlag, den Brexit-Deal erst endgültig abzusegnen, wenn die dazugehörigen Gesetze beschlossen wurden, könnte auf breite Unterstützung stoßen. Auch ein zweites Referendum könnte zur Abstimmung gelangen.

Viele Szenarien denkbar

Sollten sich die Abgeordneten – mit oder ohne Vorbehalt – für Johnsons Deal entscheiden, wäre das jedenfalls ein großer Schritt in Richtung eines geregelten Austritts Großbritanniens aus der EU. Entsprechende Gesetze könnten schon in der kommenden Woche zur Abstimmung gelangen. Wenn Johnson nicht per Zusatzantrag daran gehindert wird, könnte Großbritannien tatsächlich noch vor dem 31. Oktober aus der EU ausscheiden.

TV-Hinweis

ORF2 beschäftigt sich am Vormittag in mehreren Sendungen mit dem Brexit – derzeit berichtet eine ZIB Spezial über das aktuelle Geschehen.

Wenn das Unterhaus Johnsons Deal hingegen ablehnt, gibt es mehrere Möglichkeiten: Gleich anschließend wird jedenfalls über einen „No Deal“-Brexit abgestimmt. Auch der „Benn Act“ könnte schlagend werden, der die Regierung prinzipiell rechtlich daran bindet, eine weitere Verlängerung bei der EU anzufordern, wenn ein Deal abgelehnt wird. Im Vorfeld wurde jedoch häufig darüber diskutiert, dass das nicht automatisch eine Verlängerung bedeuten müsse – nicht zuletzt müssen ja auch die EU-Staaten diesem Ansuchen zustimmen.

Johnson warb per Telefon für Deal

Der britische Premier verbrachte seinem Sprecher zufolge den Freitag vor allem am Telefon. Wie die BBC schreibt, habe Johnson für den Deal bei Abgeordneten aller Parteien geworben. Noch am Donnerstag zeigte er sich „sehr zuversichtlich“, dass er die Mehrheit im britischen Unterhaus erreichen könnte – wenngleich die nordirische DUP, auf dessen Unterstützung Johnson schon bisher angewiesen war, angekündigt hatte, gegen Johnsons Deal stimmen zu wollen.

Johnsons Vorgängerin Theresa May war mit dem von ihr ausgehandelten Abkommen mit der EU gleich dreimal im britischen Parlament gescheitert. Die Ausgangsposition für Johnson ist – wenn man allein nach den Zahlen geht – seither nicht besser geworden: Selbst mit der DUP hat er keine Mehrheit im britischen Unterhaus. Doch einige britische Medien attestieren, dass es diesmal mehr Bewegung gebe – wohl auch deswegen, weil viele das Kapitel Brexit endgültig abhaken wollen. Dennoch wird es für Johnson extrem knapp.

House of Commons

Das House of Commons, das britische Unterhaus, hat insgesamt 650 Sitze. Die Abgeordneten der Sinn-Fein-Partei stimmen traditionell nicht mit, genauso wie sich der Speaker und seine drei Stellvertreter der Stimme enthalten.

Premier muss auf Best-Case-Szenario hoffen

Damit der neue Deal das Parlament passiert, müssen 320 Abgeordnete – bei voller Anwesenheit – für den Deal stimmen. Johnsons konservative Partei hat momentan 287 Abgeordnete – nicht annähernd genug, um diese Grenze zu überschreiten. Wenn die DUP wie angekündigt gegen Johnsons Deal stimmt, braucht Johnson Unterstützung von jenen Parteimitgliedern, die er aus dem Klub der Konservativen geworfen hatte. Einige kündigten bereits an, für den Deal stimmen zu wollen.

Aber selbst wenn sich die 23 Ex-Torys geschlossen hinter Johnson stellen, fehlen ihm immer noch einige Stimmen. Damit wird er auch bei Labour und den unabhängigen Abgeordneten im Parlament auf die nötigen „Ayes“ für seinen Deal hoffen müssen. Die BBC schreibt, dass beim letzten Votum für Mays Deal im März immerhin fünf Labour-Abgeordnete und zwei Unabhängige für ihren Deal gestimmt haben.

Weitere mögliche Szenarien bei Vorbereitung des geplanten EU-Austritts Großbritanniens (Pfeil-Grafik)
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Juncker warnt vor Folgen

Der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte in der Nacht auf Freitag vor den Folgen einer Ablehnung des Brexit-Abkommens im britischen Parlament. Wenn es in Westminister keine Zustimmung gebe, „dann sind wir in einer extrem komplizierten Situation“, sagte Juncker beim EU-Gipfel in Brüssel. Die mahnende Haltung der EU könnte ebenfalls Rückenwind für Johnson bedeuten – auch die EU dürfte also das Kapitel Brexit hinter sich lassen wollen.

Britischer Premier Boris Johnson und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
APA/AFP/Kenzo Tribouillard
Johnson und Juncker zeigten sich am Donnerstag zufrieden über das Ergebnis

Eine Ablehnung einer weiteren Verlängerung vonseiten der EU scheint aber eher unwahrscheinlich. Am Freitag hieß es jedenfalls, dass man auf dem EU-Gipfel mehrere Alternativpläne erörtert habe. „Wir haben die meiste Zeit damit verbracht, die Szenarien A, B, C und D zu diskutieren“, so der litauische Präsident Gintanas Nauseda. Der Samstag wird zeigen, welches dieser Szenarien für die EU in Kraft treten wird.