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AP/Alberto Pezzali
Brexit-Entscheidung

Letwin-Antrag als neue Hürde für Johnson

In der historischen Brexit-Sitzung des britischen Unterhauses am Samstag ist es gleich zu Beginn zu einer überraschenden Wende gekommen. Denn mit einem Schlag steht eine Vertagung der Abstimmung zum Brexit-Plan von Premier Boris Johnson im Raum – konkret geht es um einen Abänderungsantrag, der von Parlamentspräsident John Bercow zugelassen wurde.

Die Abgeordneten, die zum ersten Mal seit dem Falkland-Krieg im Jahr 1982 an einem Samstag ins Unterhaus gerufen wurden, werden zuerst über eine Vertagung der Entscheidung abstimmen, wie Bercow bekanntgab. Dabei geht es um das Letwin-Amendment. Sollte dieses angenommen werden, wäre eine Zustimmung der Abgeordneten zu Johnsons Brexit-Deal am Samstag unmöglich.

Der vom Tory-Abgeordneten und Ex-Kabinettsminister Oliver Letwin eingebrachte Antrag sieht nämlich vor, die Entscheidung über das Abkommen bis zur Verabschiedung des Ratifizierungsgesetzes aufzuschieben. Das Gesetz ist notwendig, um dem Austrittsabkommen in Großbritannien Geltung zu verschaffen. Sollte er am Samstag keine Zustimmung für seinen Deal bekommen, wäre Johnson per Gesetz verpflichtet, einen Antrag auf Verlängerung der am 31. Oktober auslaufenden Brexit-Frist in Brüssel zu stellen.

Johnson kämpferisch, Labour dagegen

Johnson will eine Verschiebung der Abstimmung über seinen Brexit-Vertrag freilich verhindern. Er werde dafür kämpfen, dass der Letwin-Antrag keine Mehrheit finde, sagte ein Sprecher von Johnson. Ein Votum für den Letwin-Antrag sei ein Votum für Verzögerung, so der Sprecher zudem. Die oppositionelle Labour-Partei will den Antrag unterstützen, wie es aus der Partei hieß.

ORF-Korrespondentin Pöcksteiner aus London

ORF-Korrespondentin Eva Pöcksteiner beobachtet den Parlamentstag in London und erklärt die Abänderungsanträge, über die diskutiert wird.

Erwartet wird, dass der Premier auch bei Annahme des Letwin-Amendments weiter versuchen würde, den Deal noch rechtzeitig durchs Parlament zu bringen, indem er den Gesetzesentwurf bereits am Montag vorlegt. Am Dienstag könnte dann bereits eine weitere wichtige Abstimmung mit der zweiten Lesung des Gesetzes anstehen. Würde der Entwurf diese Hürde passieren, könnte Johnson damit rechnen, die Unterstützung für den Deal doch noch zu bekommen. Den Antrag auf Verlängerung könnte er dann möglicherweise noch vor dem 31. Oktober zurückziehen.

Wird das Letwin-Amendment nicht angenommen, könnte der Brexit-Vertrag noch am Samstag in einem „Meaningful Vote“ die entscheidende Hürde nehmen. Dann würde die eigentliche Ratifizierung starten, auch im EU-Parlament.

Die Sitzung im BBC-Livestream

Johnson auf Stimmen der Opposition angewiesen

Auch die durch den Letwin-Antrag nun in der Schwebe stehende Abstimmung für Johnson neuen Brexit-Deal ist für den britischen Premier kein Selbstläufer – schließlich verfügt Johnson über keine eigene Mehrheit im Parlament. Er ist daher auf die Unterstützung aus der Opposition angewiesen – es könnte also, sollte es so weit kommen, auch hierbei knapp werden.

Entsprechend intensiv warb Johnson zu Sitzungsbeginn für seinen Deal. „Heute hat dieses Haus eine historische Gelegenheit“, so Johnson. Das Abkommen sei ein „neuer Weg nach vorne“ und die „größte Wiederherstellung nationaler Souveränität in der Geschichte des Parlaments“.

Corbyn: Neuer Vertrag noch schlimmer als der alte

Labour-Chef Jeremy Corbyn hingegegen übte in der Sitzung scharfe Kritik am zur Abstimmung stehenden Deal. Das Vertragswerk sei noch schlimmer als die vorhergehenden Abmachungen mit der EU, sagte Corbyn. Er warf Johnson vor, seiner Regierung könne man nicht trauen – er warf ihm Lüge vor.

Johnsons Beteuerungen, Arbeitnehmerrechte und Umweltstandards nicht zu senken, seien „leere Versprechungen“, sagte Corbyn weiter. Er warnte, Johnsons Brexit-Deal führe unweigerlich zu einem Handelsabkommen nach Manier des US-Präsidenten Donald Trump. Corbyn erklärte: „Man kann ihm (Johnson, Anm.) kein Wort glauben.“

Statement von Premierminister Johnson

Der britische Premierminister Boris Johnson muss am Samstag genügend Stimmen erhalten, um seinen Deal durchzubringen. Im britischen Parlament verteidigt er sein Abkommen.

May spricht von „Schlüsselmoment“

So wie Johnson verteidigte in der Folge auch Brexit-Minister Stephen Barclay ausführlich das mit der EU ausgehandelte Abkommen. Die Nachverhandlungen hätten Barclay zufolge wesentliche Verbesserungen gebracht, von denen sowohl die EU als auch das Vereinigte Königreich profitiere. Nun gelte es Barclay zufolge, die Unsicherheit im Land zu beenden.

Auch Johnsons Vorgängerin Ex-Regierungschefin Theresa May meldete sich in der Brexit-Debatte zu Wort. Diese sprach in ihrer Rede von einer „Schlüsselmoment“ – die Augen der Welt seien auf das britische Parlament gerichtet. May zufolge gelte es, einen vertragslosen Zustand zu verhindern und somit für den mit der EU ausverhandelten Deal zu stimmen.

Gegner und Verbündete Johnsons bringen sich in Stellung

Unmittelbar vor der Debatte brachten sich Gegner und Verbündete Johnsons in Stellung: Rückhalt erhielt er von Brexit-Hardlinern aus den eigenen Reihen. So erklärte der einflussreiche Abgeordnete Iain Duncan, er werde für den Vertrag stimmen. Es sei jetzt trotz Zweifeln einfach am wichtigsten, den Brexit umzusetzen, sagte er der BBC.

Auch die offiziell mit Johnsons Konservativen verbündete nordirische DUP, die aber Widerstand gegen den Brexit-Vertrag angekündigt hat, gewährte Einblick in ihre Strategie: DUP-Vizechef Nigel Dodds erklärte ebenfalls in der BBC, seine Partei erwäge ein Votum für einen Ergänzungsantrag, der eine unmittelbare Entscheidung über die Brexit-Übereinkunft verschieben würde. Mit derartigen Vorschlägen in Ergänzungsanträgen versuchen Johnsons Kritiker, noch vor der Abstimmung die Formulierung und damit die Bedeutung seiner Gesetzesvorlage zu ändern. Die DUP hat sich wegen der irischen Zollfrage gegen Johnsons Kompromiss mit der EU gestellt.

Sollten sich die Abgeordneten – mit oder ohne Vorbehalt – für Johnsons Deal entscheiden, wäre das jedenfalls ein großer Schritt in Richtung eines geregelten Austritts Großbritanniens aus der EU. Entsprechende Gesetze könnten schon in der kommenden Woche zur Abstimmung gelangen. Wenn Johnson nicht per Zusatzantrag daran gehindert wird, könnte Großbritannien tatsächlich noch vor dem 31. Oktober aus der EU ausscheiden.

ORF-Korrespondenten zur Brexit-Entscheidung

Eva Pöcksteiner, Roland Adrowitzer und Raffaela Schaidreiter berichten am Tag der Brexit-Entscheidung aus London, Belfast und Brüssel.

May dreimal gescheitert

Johnsons Vorgängerin May war mit dem von ihr ausgehandelten Abkommen mit der EU gleich dreimal im britischen Parlament gescheitert. Die Ausgangsposition für Johnson ist – wenn man allein nach den Zahlen geht – seither nicht besser geworden: Selbst mit der DUP hat er keine Mehrheit im britischen Unterhaus. Doch einige britische Medien attestieren, dass es diesmal mehr Bewegung gebe – wohl auch deswegen, weil viele das Kapitel Brexit endgültig abhaken wollen. Dennoch wird es für Johnson extrem knapp.

House of Commons

Das House of Commons, das britische Unterhaus, hat insgesamt 650 Sitze. Die Abgeordneten der Sinn-Fein-Partei stimmen traditionell nicht mit, genauso wie sich der Speaker und seine drei Stellvertreter der Stimme enthalten.

Premier muss auf Best-Case-Szenario hoffen

Damit der neue Deal das Parlament passiert, müssen 320 Abgeordnete – bei voller Anwesenheit – für den Deal stimmen. Johnsons konservative Partei hat momentan 287 Abgeordnete – nicht annähernd genug, um diese Grenze zu überschreiten. Wenn die DUP wie angekündigt gegen Johnsons Deal stimmt, braucht Johnson Unterstützung von jenen Parteimitgliedern, die er aus dem Klub der Konservativen geworfen hatte. Einige kündigten bereits an, für den Deal stimmen zu wollen.

Aber selbst wenn sich die 23 Ex-Torys geschlossen hinter Johnson stellen, fehlen ihm immer noch einige Stimmen. Damit wird er auch bei Labour und den unabhängigen Abgeordneten im Parlament auf die nötigen „Ayes“ für seinen Deal hoffen müssen. Die BBC schrieb, dass beim letzten Votum für Mays Deal im März immerhin fünf Labour-Abgeordnete und zwei Unabhängige für ihren Deal gestimmt haben.

Weitere mögliche Szenarien bei Vorbereitung des geplanten EU-Austritts Großbritanniens (Pfeil-Grafik)
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Anti-Brexit-Protest vor Parlament

Die Parlamentsdebatte wird von Protesten begleitet. Neben Brexit-Befürwortern machten am Samstag nicht zuletzt die Gegner des EU-Austritts mobil. Ab dem frühen Nachmittag füllten sich die Straßen vor dem Londoner Parlamentsgebäude zu der von der Kampagne People’s Vote organisierter Protestveranstaltung.

Anti-Brexit-demo in London
AP/Matt Dunham
Die Parlamentsdebatte wird in London von einer Großdemo begleitet

Juncker warnt vor Folgen

Der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte in der Nacht auf Freitag vor den Folgen einer Ablehnung des Brexit-Abkommens im britischen Parlament. Wenn es in Westminister keine Zustimmung gebe, „dann sind wir in einer extrem komplizierten Situation“, sagte Juncker beim EU-Gipfel in Brüssel. Die mahnende Haltung der EU könnte ebenfalls Rückenwind für Johnson bedeuten – auch die EU dürfte also das Kapitel Brexit hinter sich lassen wollen.

Britischer Premier Boris Johnson und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
APA/AFP/Kenzo Tribouillard
Johnson und Juncker zeigten sich am Donnerstag zufrieden über das Ergebnis

Eine Ablehnung einer weiteren Verlängerung vonseiten der EU scheint aber eher unwahrscheinlich. Am Freitag hieß es jedenfalls, dass man auf dem EU-Gipfel mehrere Alternativpläne erörtert habe. „Wir haben die meiste Zeit damit verbracht, die Szenarien A, B, C und D zu diskutieren“, so der litauische Präsident Gintanas Nauseda. Der Samstag wird zeigen, welches dieser Szenarien für die EU in Kraft treten wird.