Brexit-Gegner vor dem britischen Parlament in London
Reuters/Alkis Konstantinidis
Brexit-Aufschub beantragt

Vom „Super Saturday“ zur Hängepartie

Vom „Super Saturday“ zum Reinfall für Premier Boris Johnson: Wenige Wochen vor dem geplanten EU-Austritt stand am Samstag im britischen Unterhaus ein Votum über den in letzter Minute ausgehandelten, neuen Brexit-Deal des britischen Regierungschefs auf der Agenda. Am Nachmittag hieß es dazu einmal mehr „Bitte warten“. Johnson musste Brüssel – wie seine Vorgängerin Theresa May – um Aufschub des EU-Austritts bitten.

Eine Mehrheit der britischen Abgeordneten hatte gegen den Wunsch der Regierung gestimmt, den von Johnson nachverhandelten Austrittsvertrag schon jetzt zu billigen. Vielmehr wurde diese Entscheidung vertagt, bis das Gesetz zur Ratifizierung des Vertrags unter Dach und Fach ist. Hintergrund ist das Misstrauen vieler Abgeordneter gegen Johnson. Sie sahen die Gefahr, dass das Gesetz noch scheitert und am 31. Oktober doch ein Chaos-Brexit drohen könnte.

Per Gesetz war der Premier somit verpflichtet, am Samstag einen weiteren Aufschub bei der EU zu beantragen. Jener Antrag traf am Abend in Brüssel ein, wie EU-Ratspräsident Donald Tusk auf dem Kurznachrichtendienst Twitter bestätigte. Unterzeichnet hatte Johnson den Brief nicht, berichtete die BBC unter Berufung auf einen Insider. Eine Unterschrift des britischen Premiers würde sich jedoch auf einem zweiten Schreiben finden. Darin teile Johnson der EU mit, dass eine weitere Verzögerung des britischen EU-Austritts ein Fehler sei. Johnson würde die EU darin zudem bitten, Druck auf die britischen Abgeordneten auszuüben.

Abstimmung im britischen Unterhaus
EVU/GBPARL
Die Abgeordneten stimmten am Samstag mit 322 gegen 306 Stimmen für einen Antrag des Abgeordneten Oliver Letwin. Dieser wollte mit dem Änderungsantrag verhindern, dass es versehentlich doch noch zu einem ungeregelten Brexit kommt.

Über eine erneute Brexit-Verschiebung müssten die Staats- und Regierungschefs der verbleibenden 27 EU-Mitgliedsstaaten nach einem Antrag Londons entscheiden. Dazu müsste Tusk einen Sondergipfel einberufen. Wie lange die EU Aufschub gewähren könnte, ist unklar. Hätte der Premierminister den Antrag zur Verschiebung nicht gestellt, hätte ein gerichtliches Nachspiel gedroht.

Votum über Deal kommende Woche möglich

Johnson hatte zuvor auch angekündigt, kommende Woche das Gesetz zur Umsetzung des Vertrags ins Parlament einzubringen. Erwartet wird, dass der Premier das Gesetz bereits am Montag vorlegt. Am Dienstag könnte dann eine weitere wichtige Abstimmung mit der zweiten Lesung des Gesetzes anstehen. Würde das Gesetz diese Hürde passieren, könnte Johnson damit rechnen, die Unterstützung für den Deal doch noch rechtzeitig zu bekommen. Das gilt selbst dann, wenn Londons Antrag für einen Aufschub davor von Brüssel angenommen wurde.

Nach den Worten des auch für den Parlamentskalender zuständigen Tory-Abgeordneten Jacob Rees-Mogg werde der konkrete Fahrplan spätestens am Montag stehen. Ob Rees-Mogg, wie vor den Abgeordneten angekündigt, eine Abstimmung am Montag vorschlagen kann, ist umstritten. Parlamentssprecher John Bercow vermisst Medienberichten zufolge hier etwa Präzendenzfälle. Er will Anfang der Woche entscheiden, ob er der Regierung erlauben wird, den Deal erneut zur Abstimmung zu bringen.

Äußerst riskant ist der nun von Johnson offenbar verfolgte Zeitplan auch, weil nach dem Unterhaus auch das Europaparlament das Abkommen noch rechtzeitig ratifizieren muss. Theoretisch möglich ist das ebenfalls noch kommende Woche bei der Sitzung in Straßburg. Die EU-Botschafter kommen am Sonntagvormittag zusammen, um die neuen Entwicklungen zu bewerten.

Weitere Szenarien

Doch auch weitere Szenarien könnten in den kommenden Wochen eintreten. Sollte der Deal bis Ende des Monats nicht verabschiedet werden oder die EU dem Antrag auf Aufschub nicht zustimmen, würde Großbritannien ohne Vertrag die EU verlassen. In diesem Fall müssten an den Grenzen Zollkontrollen eingeführt werden, was zu Lieferengpässen bei Lebensmitteln, Treibstoff und Medikamenten führen könnte.

Weiter im Raum steht auch eine vorgezogene Neuwahl. Johnson hat bereits zweimal versucht, eine Neuwahl zu erreichen. Er hofft darauf, seine absolute Mehrheit im Parlament zurückzugewinnen. Die oppositionelle Labour-Partei hat es bisher aber abgelehnt, Johnson per Misstrauensvotum zu stürzen und damit eine Neuwahl auszulösen, weil sie zunächst einen Austritt ohne Vertrag ausschließen wollte. Mittelfristig scheint eine Neuwahl angesichts der tiefen politischen Krise aber unumgänglich.

Schaltung nach London, Nordirland und Brüssel

Das britische Parlament hat einen Aufschub der Abstimmung über den Brexit-Deal mit der EU beschlossen und damit das gesamte Vertragswerk infrage gestellt. Dazu melden sich die ORF-Korrspondenten Eva Pöcksteiner aus London, Roland Adrowitzer aus Nordirland und Raffaela Schaidreiter aus Brüssel.

Nach wie vor reißen auch die Forderungen nach einem zweiten Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU nicht ab. Hunderttausende Menschen gingen am Samstag erneut dafür auf die Straße. Auch die Labour-Partei und die beiden früheren Premiers Tony Blair und John Major treten für diese Option ein. Im Parlament gibt es dafür aber keine klare Mehrheit. Auch der Ausgang eines solchen Votums ist laut Umfragen völlig offen.

Britischer PRemierminister Boris Johnson
APA/AFP/Jessica Taylor
Für Johnson gab es am Samstag die nächste parlamentarische Niederlage

Abgeändertes Scheidungsabkommen

Johnson war diese Woche gegen alle Erwartungen eine Einigung mit Brüssel gelungen. Knackpunkt war die Frage, wie eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland verhindert werden kann. Die im ursprünglichen Austrittsabkommen vorgesehene Regelung, den umstrittenen „Backstop“, konnte Johnson mit Zustimmung der EU durch eine Alternative ersetzen.