Der britische Premierminister Boris Johnson verlässt die Downing Street
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Brexit-Hängepartie

Briefe stiften Verwirrung, EU lässt sich Zeit

Nach der Brexit-Hängepartie im britischen Parlament ist der weitere Zeitplan für einen Ausstieg Großbritanniens aus der EU wieder unklar. Der britische Premierminister Boris Johnson schickte zwar am späten Samstagabend einen Brief mit der Bitte um eine Brexit-Fristverlängerung an EU-Ratspräsident Donald Tusk, betonte aber in einem zweiten Schreiben, er selbst wolle keine Verlängerung.

Diesen Brief habe er auch unterzeichnet, hieß es aus der Downing Street. Dieses Schreiben zirkulierte in verschiedenen britischen Medien. „Bedauerlicherweise hat das Parlament die Gelegenheit verpasst, dem Ratifizierungsprozess Schwung zu verleihen“, heißt es in dem von Johnson unterzeichneten Schreiben. Auch sei es durchaus möglich, dass die EU die Forderung des Parlaments für einen weiteren Brexit-Aufschub zurückweise.

Er bedauerte darin auch, dass sich die EU nun weiter mit dem Brexit befassen müsse: „Eine weitere Verlängerung würde den Interessen des Vereinigten Königreichs und unseren EU-Partner sowie unseren Beziehungen schaden. Wir müssen diesen Prozess zu einem Ende bringen.“ In einem dritten Schreiben, das vom britischen EU-Botschafter Tim Barrow verfasst wurde, wird zudem klargestellt, dass der erste Brief zur Fristverlängerung nur abgeschickt worden sei, um den Gesetzesvorgaben nachzukommen.

Tusk will EU-Staaten „in den nächsten Tagen“ konsultieren

Einem Insider zufolge bestand Johnsons Antrag an die EU aus einer nicht unterschriebenen Fotokopie des Textes, den das Gesetz für diesen Fall vorschreibt. Auch ein Begleitschreiben war nicht von Johnson unterzeichnet, sondern vom britischen EU-Botschafter Barrow. Am Sonntag wurde klar, dass die EU-Mitgliedsstaaten nicht sofort über den britischen Antrag zur Verschiebung des Brexits entscheiden werden.

EU-Ratspräsident Donald Tusk werde die Mitgliedsstaaten „in den nächsten Tagen“ konsultieren, sagte der europäische Verhandlungsführer Michel Barnier nach einem Treffen mit den EU-Botschaftern. Wie ein Diplomat sagte, nahmen die Botschafter den Verlängerungsantrag „zur Kenntnis“. Bei der Entscheidung darüber würden „weitere Entwicklungen auf der britischen Seite“ einbezogen.

Abstimmung im britischen Unterhaus
EVU/GBPARL
Die Abgeordneten stimmten am Samstag mit 322 gegen 306 Stimmen für einen Antrag des Abgeordneten Oliver Letwin. Dieser wollte mit dem Änderungsantrag verhindern, dass es versehentlich doch noch zu einem ungeregelten Brexit kommt.

Entscheidung vertagt

Eine Mehrheit der britischen Abgeordneten stimmte am Samstag gegen den Wunsch der Regierung, den von Johnson nachverhandelten Austrittsvertrag schon jetzt zu billigen. Vielmehr wurde diese Entscheidung vertagt, bis das Gesetz zur Ratifizierung des Vertrags unter Dach und Fach ist. Hintergrund ist das Misstrauen vieler Abgeordneter gegen Johnson. Sie sahen die Gefahr, dass das Gesetz noch scheitert und am 31. Oktober doch ein Chaos-Brexit drohen könnte.

Über eine erneute Brexit-Verschiebung müssten die Staats- und Regierungschefs der verbleibenden 27 EU-Mitgliedsstaaten nach einem Antrag Londons entscheiden. Dazu müsste Tusk einen Sondergipfel einberufen. Wie lange die EU Aufschub gewähren könnte, ist unklar. Hätte der Premierminister den Antrag zur Verschiebung nicht gestellt, hätte ein gerichtliches Nachspiel gedroht.

Votum über Deal kommende Woche möglich

Johnson hatte zuvor auch angekündigt, kommende Woche das Gesetz zur Umsetzung des Vertrags im Parlament einzubringen. Erwartet wird, dass der Premier das Gesetz bereits am Montag vorlegt. Am Dienstag könnte dann eine weitere wichtige Abstimmung mit der zweiten Lesung des Gesetzes anstehen. Würde das Gesetz diese Hürde passieren, könnte Johnson damit rechnen, die Unterstützung für den Deal doch noch rechtzeitig zu bekommen. Das gilt selbst dann, wenn Londons Antrag für einen Aufschub davor von Brüssel angenommen wurde.

Nach den Worten des auch für den Parlamentskalender zuständigen Tory-Abgeordneten Jacob Rees-Mogg werde der konkrete Fahrplan spätestens am Montag stehen. Ob Rees-Mogg, wie vor den Abgeordneten angekündigt, eine Abstimmung am Montag vorschlagen kann, ist umstritten. Parlamentssprecher John Bercow vermisst Medienberichten zufolge hier etwa Präzendenzfälle. Er will Anfang der Woche entscheiden, ob er der Regierung erlauben wird, den Deal erneut zur Abstimmung zu bringen.

Äußerst riskant ist der nun von Johnson offenbar verfolgte Zeitplan auch, weil nach dem Unterhaus auch das Europaparlament das Abkommen noch rechtzeitig ratifizieren muss. Theoretisch möglich ist das ebenfalls noch kommende Woche bei der Sitzung in Straßburg.

Weitere Szenarien

Doch auch weitere Szenarien könnten in den kommenden Wochen eintreten. Sollte der Deal bis Ende des Monats nicht verabschiedet werden oder die EU dem Antrag auf Aufschub nicht zustimmen, würde Großbritannien ohne Vertrag die EU verlassen. In diesem Fall müssten an den Grenzen Zollkontrollen eingeführt werden, was zu Lieferengpässen bei Lebensmitteln, Treibstoff und Medikamenten führen könnte.

Weiter im Raum steht auch eine vorgezogene Neuwahl. Johnson hat bereits zweimal versucht, eine Neuwahl zu erreichen. Er hofft darauf, seine absolute Mehrheit im Parlament zurückzugewinnen. Die oppositionelle Labour-Partei drängte am Samstag auf eine Neuwahl. Diese seien unvermeidlich, sagte ein Parteisprecher am Sonntag. Labour werde außerdem einen Antrag auf eine zweite Volksabstimmung zum Brexit unterstützen.

Johnson habe sich kindisch verhalten, indem die Regierung einerseits einen Aufschub des Brexits bei der EU beantragt habe, Johnson selbst diesen in einem zweiten Brief aber als unsinnig bezeichnet habe, sagte der Sprecher.

Weiter Forderungen nach zweitem Referendum

Nach wie vor reißen auch die Forderungen nach einem zweiten Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU nicht ab. Hunderttausende Menschen gingen am Samstag erneut dafür auf die Straße. Auch die Labour-Partei und die beiden früheren Premiers Tony Blair und John Major treten für diese Option ein. Im Parlament gibt es dafür aber keine klare Mehrheit. Auch der Ausgang eines solchen Votums ist laut Umfragen völlig offen.

Britischer PRemierminister Boris Johnson
APA/AFP/Jessica Taylor
Für Johnson gab es am Samstag die nächste parlamentarische Niederlage

Abgeändertes Scheidungsabkommen

Johnson war diese Woche gegen alle Erwartungen eine Einigung mit Brüssel gelungen. Knackpunkt war die Frage, wie eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland verhindert werden kann. Die im ursprünglichen Austrittsabkommen vorgesehene Regelung, den umstrittenen „Backstop“, konnte Johnson mit Zustimmung der EU durch eine Alternative ersetzen.