Ein Union-flag und eine EU-Fahne vor dem britischen Parlament
Reuters/Simon Dawson
Antrag auf Aufschub

EU spielt im Brexit-Chaos auf Zeit

Nach dem britischen Antrag auf eine neuerliche Brexit-Verschiebung will sich Brüssel mit einer Entscheidung Zeit lassen. EU-Ratspräsident Donald Tusk werde die Mitgliedsstaaten „in den nächsten Tagen“ konsultieren, sagte der europäische Verhandlungsführer Michel Barnier am Sonntag. Der britische Premier Boris Johnson, der zuvor mit widersprüchlichen Briefen zum Aufschub für Wirbel sorgte, hält weiter an einem Austritt am 31. Oktober fest.

Die EU-Mitgliedsstaaten werden nicht sofort über den britischen Antrag zur Verschiebung des Brexits entscheiden, so Barnier nach einem Treffen mit den EU-Botschaftern. Einem EU-Diplomaten zufolge nahmen die Botschafter den Verlängerungsantrag nur „zur Kenntnis“. Bei der späteren Entscheidung darüber würden „weitere Entwicklungen auf der britischen Seite“ einbezogen. Wie lange die EU Aufschub gewähren könnte, ist unklar.

Es gilt als wahrscheinlich, dass die 27 bleibenden Staaten nötigenfalls noch einmal einen Aufschub gewähren. Dazu müsste Tusk einen Sondergipfel einberufen. Johnson war am Samstag vom Londoner Unterhaus zu dem Ansuchen gezwungen worden. Am Abend schickte er ein entsprechendes Schreiben nach Brüssel. Johnson machte in einem weiteren Schreiben gleichzeitig klar, dass er keine Verschiebung will und beabsichtigt, den mit der EU vereinbarten Austrittsvertrag bis Ende Oktober durch das britische Parlament zu bringen.

EU hält sich „alle Optionen offen“

Die EU-Staaten setzen offenbar – wie die britische Regierung – darauf, dass das noch eine Option ist. Sie hätten „den Ratifizierungsprozess für das Austrittsabkommen auf EU-Seite formal angestoßen“, sagte der EU-Diplomat. Damit halte sich die EU „alle Optionen offen.“ Wird das Abkommen vor dem 31. Oktober vom Unterhaus gebilligt, sei auch keine Verlängerung nötig, weil Großbritannien dann mit dem Abkommen austreten könne und es nicht zu einem „No Deal“-Brexit komme.

Dem Austrittsabkommen muss neben dem britischen Parlament auch das Europaparlament noch zustimmen. Am Donnerstag hatten es bereits die EU-Staats- und Regierungschefs gebilligt.

Am Montag kommt bei der Plenartagung des EU-Parlaments in Straßburg der Brexit-Lenkungsausschuss zusammen. Danach tagen die Fraktionsvorsitzenden mit Parlamentspräsident David Sassoli. Bisher war als möglicher Termin für eine Abstimmung der Donnerstag vorgesehen. Diesen dürfte das EU-Parlament aber nur aufrechterhalten, wenn das Unterhaus dem Abkommen zuvor zugestimmt hat.

Abstimmung über Deal am Montag?

Die Londoner Regierung setzt jedenfalls alles daran, den Deal so schnell wie möglich im Unterhaus durchzubringen. Nach Ansicht von Außenminister Dominic Raab gebe es inzwischen ausreichend Unterstützung. Der britische Staatsminister Michael Gove beharrte am Sonntag auf dem Austrittstermin Ende des Monats und drohte auf Sky News erneut, notfalls gehe Großbritannien ohne Vertrag. Die Gefahr sei nach den Entscheidungen des britischen Parlaments am Samstag gestiegen.

Johnsons Briefen war die Entscheidung des britischen Unterhauses vorausgegangen, die Abstimmung über das Austrittsabkommen mit den von Johnson ausgehandelten Änderungen – insbesondere in der Nordirland-Frage – zu vertagen. Zunächst soll das Gesetz zur Ratifizierung des Abkommens einbracht werden. Denkbar ist, dass dieses Gesetz entscheidende parlamentarische Hürden bis Dienstag nimmt. Der genaue Fahrplan im Unterhaus war am Sonntag aber noch nicht bekannt.

Womöglich stimmen die Abgeordneten schon an diesem Montag im Unterhaus über den zwischen Johnson und der EU ausgehandelten Deal ab. Parlamentspräsident John Bercow will seine Entscheidung dazu am Montagnachmittag bekanntgeben, wie eine Sprecherin des Unterhauses sagte. Gibt er grünes Licht, könnten die Abgeordneten bereits am selben Tag am späten Nachmittag oder am Abend über den Deal abstimmen.

Abstimmung im britischen Unterhaus
EVU/GBPARL
Die Abgeordneten stimmten am Samstag mit 322 gegen 306 Stimmen für einen Antrag des Abgeordneten Oliver Letwin. Dieser wollte mit dem Änderungsantrag verhindern, dass es versehentlich doch noch zu einem ungeregelten Brexit kommt.

Labour für Neuwahl

Hinter dem Vorstoß zur Vertagung stand die Sorge, das Brexit-Abkommen könnte nicht mehr rechtzeitig vor dem Austritt ratifiziert werden. Die Folge wäre ein ungeregeltes Ausscheiden aus der Europäischen Union. Um einen „No Deal“-Brexit zu verhindern, müssten die Abgeordneten alles durchwinken, was ihnen die Regierung im Ratifizierungsgesetz vorsetzt.

Die oppositionelle Labour-Partei forderte am Sonntag unterdessen eine Neuwahl. Diese sei unvermeidlich, sagte ein Parteisprecher am Sonntag. Labour werde außerdem einen Antrag auf eine zweite Volksabstimmung zum Brexit unterstützen. Johnson habe sich kindisch verhalten, indem die Regierung einerseits einen Aufschub des Brexits bei der EU beantragt habe, Johnson selbst diesen in einem zweiten Brief aber als unsinnig bezeichnet habe, sagte der Sprecher.

Nach wie vor reißen auch die Forderungen nach einem zweiten Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU nicht ab. Hunderttausende Menschen gingen am Samstag erneut dafür auf die Straße. Auch die Labour-Partei und die beiden früheren Premiers Tony Blair und John Major treten für diese Option ein. Im Parlament gibt es dafür aber keine klare Mehrheit. Auch der Ausgang eines solchen Votums ist laut Umfragen völlig offen.