Türkische Soldaten in Nordsyrien
APA/AFP/Zein Al Rifai
Erdogan bei Putin

Vor nächster Phase in Kampf gegen Kurden

Die Türkei hat ihre Militäroperation gegen die Kurden in Nordsyrien auf Bitten der USA für wenige Tage angehalten. Doch am Dienstag endet die fünftägige Waffenruhe. Davor trifft der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den russischen Amtskollegen Wladimir Putin. Danach dürfte die nächste Phase des türkischen Kampfes gegen die Kurden starten.

Es wird das Treffen der beiden größten Profiteure der jüngsten von Präsident Donald Trump ausgelösten Volte der US-Außenpolitik: Putin ist seither der einzige überregionale Machtfaktor im Syrien-Konflikt. Und Erdogan kann endlich seinen langgehegten Plan, die Kurden auf der syrischen Seite weit von der türkischen Grenze wegzudrängen, anfangen, umzusetzen. Die Interessen der beiden Präsidenten laufen in vielem parallel, wenn auch nicht in allen Bereichen. Doch geschickt gelang es bisher beiden, ihre Interessenkoalition trotz Meinungsdifferenzen aufrechtzuerhalten.

Das Treffen im Badeort Sotschi am Schwarzen Meer wird dazu dienen, diese Allianz für die Weltöffentlichkeit – und Trump – sichtbar zu bestärken. Welche rote Linien Putin für Erdogans Militär in Nordsyrien zieht, wird dagegen wohl nur hinter verschlossenen Türen besprochen werden. So wie der Iran will auch Putin grundsätzlich die Grenzen Syriens erhalten und nicht neu ziehen. Ob Putin Erdogans Plan zustimmt, ist unklar. Letzterer will die kurdische Bevölkerung aus einem rund 30 Kilometer tiefen Grenzstreifen vertreiben und dort Millionen syrischer Flüchtlinge, die aber nie dort gelebt haben, ansiedeln. Wird der Plan umgesetzt, läuft das laut Meinung von Fachleuten auf ethnische Säuberung hinaus.

Waffenruhe läuft aus

Am Tag des Treffens läuft auch die fünftägige Waffenruhe, zu der sich die Türkei bereiterklärt hatte, ab. Erdogan kündigte bereits an, er werde nach dem Treffen mit Putin und dem Ablaufen der Waffenruhe über das weitere Vorgehen entscheiden.

Die Türkei will zunächst offenbar eine „Sicherheitszone“ von 120 Kilometer Länge einnehmen. Das berichtete die Nachrichtenagentur AFP am Montag unter Berufung auf türkische Militärs. Die Zone solle von Tal Abjad bis Ras al-Ain reichen. Im weiteren Verlauf solle die Zone auf eine Länge von 444 Kilometern ausgedehnt werden. Dabei strebt Ankara an, dass die „Sicherheitszone“ rund 30 Kilometer tief in das syrische Staatsgebiet hineinragt.

Eine Grafik zeigt die derzeitige Lage in Nordsyrien
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Institute for the Study of War

Erdogan drohte am Wochenende damit, die Offensive fortzusetzen, sollten die Kurden bis Dienstag immer noch in dem Gebiet sein. Am Sonntag teilten die kurdisch dominierten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) mit, sie habe sich aus dem strategisch wichtigen Grenzort Ras al-Ain zurückgezogen. Mit der Türkei verbündete syrische Rebellen erklärten jedoch, der Abzug sei noch nicht abgeschlossen. „Wenn die Versprechen der Amerikaner nicht eingehalten werden, wird die Operation mit noch größerer Entschlossenheit wiederaufgenommen“, sagte Erdogan am Dienstag vor dem Abflug nach Sotschi.

Geteilte Auffassungen über Rückzug

Die Kurdenmiliz YPG setzte unterdessen zu Wochenbeginn ihren Abzug aus umkämpften Gebieten fort. Seit Beginn des Rückzugs aus der Grenzstadt Ras al-Ain am Sonntag hätten 100 Fahrzeuge die syrische Grenze in die Region Dohuk im Nordirak überquert, erfuhr die dpa aus kurdischen Quellen. In Dohuk, das zur Autonomen Region Kurdistan gehört, leben überwiegend Kurden.

Das türkische Verteidigungsministerium teilte mit, es überwache den Rückzug der Kurdenmilizen in Koordination mit den USA und behindere diesen nicht. Unklar ist aber, ob alle Parteien über das gleiche Abzugsgebiet sprechen. Für die Kurdenmilizen gilt der Rückzug nur für die Region zwischen den Städten Ras al-Ain und Tal Abjad. Die Türkei dagegen erwartet, dass die YPG aus einem viel größeren Gebiet von 32 Kilometer Tiefe und 444 Kilometer Länge abzieht. In der gemeinsamen türkisch-amerikanischen Erklärung zur Waffenruhe ist kein Gebiet spezifiziert.

IS-Kämpfer kommen frei

Eine der befürchteten Folgen des US-Abzugs hat sich ebenfalls bewahrheitet: Immer mehr gefangene Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und deren Angehörige, die in Camps von kurdischen Truppen überwacht wurden, kommen frei. Laut russischem Verteidigungsministerium vom Montag sind mittlerweile zwölf dieser IS-Gefängnisse und acht Flüchtlingscamps unbewacht.

„Kleine Zahl“ von US-Soldaten bleibt in Syrien

Die USA hatten nach dem Rückzugsbefehl Trumps am Montag weiter Soldaten aus Syrien in den benachbarten Irak verlegt. Allerdings werden entgegen Trumps Ankündigung – mit dem Totalabzug möchte dieser vor allem im Vorwahlkampf punkten – nun doch US-Soldaten in Nordsyrien stationiert bleiben. Schließlich bestätigte Trump am Montag, dass vorerst nicht alle US-Truppen aus den syrischen Kurdengebieten abgezogen werden. Vielmehr soll eine „kleine Zahl“ an Soldaten in der Nähe von Ölfeldern bzw. an der Grenze zu Jordanien stationiert bleiben.

Zusammen mit dem bisherigen Alliierten, den Demokratischen Kräften Syriens (SDF), solle verhindert werden, dass die Ölvorkommen in die Hände der IS oder anderer Kräfte fallen. Eine Entscheidung, ob diese US-Einheiten länger stationiert bleiben oder später auch abgezogen werden, ist laut Mark Esper bisher nicht gefallen.

Abzug, aber keine Rückkehr

Esper schloss zudem nicht aus, dass US-Einheiten vom Irak aus fallweise in Syrien Anti-Terror-Aktionen durchführen könnten. Jedenfalls werden die aus Syrien abgezogenen US-Einheiten – anders als von Trump ursprünglich behauptet – nicht in die USA heimgeholt. Sie verbleiben bis auf Weiteres im Irak. „Irgendwann“ würden sie in die USA zurückberufen, versuchte Esper am Wochenende Trumps falsche Aussage mit der Realität in Einklang zu bringen.

Das irakische Militär widersprach Esper jedoch am Dienstag. Die US-Truppen hätten keine Erlaubnis, im Land zu bleiben. Laut einem Statement des Militärs hätten die US-Truppen eine Genehmigung der kurdischen Regionalregierung im Irak dafür erhalten, das Land zu betreten und in weiterer Folge weiterversetzt zu werden. Am Samstag hatte Esper gesagt, dass alle der nahezu 1.000 im Norden Syriens stationierten Soldaten im westlichen Irak erwartet würden, um den Kampf gegen den IS fortzusetzen und dabei zu helfen, den Irak zu verteidigen.

Tusk verurteilt türkisches Vorgehen

EU-Ratspräsident Donald Tusk verurteilte am Dienstag unterdessen das türkische Vorgehen und forderte Erdogan dazu auf, seine Truppen aus Nordsyrien zurückzuziehen. Auch führende EU-Abgeordnete übten scharfe Kritik. „Solange die Türkei dieses aggressive Verhalten an den Tag legt, müssen wir auch über Konsequenzen, auch wirtschaftliche Konsequenzen reden“, sagte der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion, Manfred Weber (CSU), im Straßburger EU-Parlament.

Angesetzt werden könne etwa beim Zugang zum europäischen Binnenmarkt für die Türkei und deren Mitgliedschaft in der Zollunion, sagte Weber. Die Chefin der Sozialdemokraten, Iratxe Garcia, beklagte, dass auf dem EU-Gipfel vergangene Woche keine „konkreten Maßnahmen“ beschlossen worden seien. Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten hatten die türkische Offensive bei dem Treffen in Brüssel vergangene Woche verurteilt und deren Ende gefordert.

Sie verschärften aber die wenige Tage vorher erlassenen Beschlüsse der EU-Außenminister nicht. Diese hatten sich nicht auf ein EU-weites Waffenembargo gegen die Türkei geeinigt, sondern nur nationale Waffenembargos von EU-Mitgliedern gutgeheißen.