Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und Russlands Präsident Wladimir Putin
AP/Sergei Chirikov
Nach Gespräch mit Putin

Türkei verlängert Waffenruhe in Nordsyrien

Nach einem Treffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit dem türkischen Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdogan ist die Waffenruhe in Nordsyrien am Dienstagabend verlängert worden. Die ursprünglich bis zum Abend geltende Feuerpause werde um 150 Stunden – rund sechs Tage – erweitert. Das kündigte Russlands Außenminister Sergej Lawrow an.

Russland will zudem gemeinsam mit der Türkei in der „Sicherheitszone“ im syrischen Grenzgebiet zur Türkei Patrouillen organisieren, so Lawrow weiter. Schon ab Mittwochmittag werde die Grenze von der russischen Militärpolizei und dem syrischen Grenzschutz bewacht werden, so Lawrow.

Putin und Erdogan hatten zuvor mehr als sechs Stunden Vieraugengespräche im russischen Sotschi geführt. Bei den Krisengesprächen ging es vor allem darum, wie die Lage im Norden Syriens normalisiert werden kann. Die Türkei hatte am 9. Oktober zusammen mit syrischen Rebellen einen Feldzug gegen die Kurdenmiliz YPG im Norden des Landes begonnen. Die Türkei betrachtet die YPG, die an der Grenze zur Türkei ein großes Gebiet kontrolliert, als Terrororganisation.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und Russlands Präsident Wladimir Putin
Reuters/Sputnik Photo Agency
Erdogan und Putin verhandelten mehrere Stunden in Sotschi

Die YPG, die Teil der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) ist, werde sich von der syrischen Grenze zurückziehen und einen Abstand von 30 Kilometer halten, sagte Lawrow. Das habe Moskau mit Ankara vereinbart. Laut Lawrow wird mit dem Abkommen das Blutvergießen in der Region beendet. Putin rief die Türkei und Syrien unterdessen zu einem Dialog auf. Stabilität sei nur zu erreichen, wenn die territoriale Unversehrtheit des Landes gewährleistet sei.

Erdogan: „Historische Vereinbarung“

Erdogan nannte das Ergebnis seines Treffens mit Putin „historisch“. „Heute haben wir mit Herrn Putin in Sachen Terrorbekämpfung, Gewährleistung der Integrität Syriens und der politischen Einheit sowie der Rückkehr der Flüchtlinge eine historische Vereinbarung unterzeichnet“, so Erdogan am Dienstagabend.

Erdogan sagte, dass nach der Vereinbarung ab diesem Mittwochmittag „innerhalb von 150 Stunden YPG-Terroristen mitsamt ihren Waffen“ aus dem betreffenden Gebiet „herausgebracht“ und „die Befestigungsanlagen und Stellungen der Organisation zerstört“ würden.

Erdogan droht mit weiteren militärischen Schritten

Im Anschluss drohte Erdogan auch mit weiteren militärischen Schritten. Auf dem Rückweg sagte er laut der Zeitung „Hürriyet“ im Flugzeug: „Die Frist des Abkommens mit den USA endet heute Nacht um 22.00 Uhr. Die gegebenen Versprechen wurden nicht vollständig eingehalten. Sobald wir zurückgekehrt sind, werden wir die endgültigen Ergebnisse bekommen, und wenn es so ist, dann werden wir die nötigen Schritte setzen. Wenn wir Zugeständnisse machen, machen wir der Terrororganisation den Weg frei.“

Auf welche Gebiete genau Erdogan sich bezog, machte er nicht deutlich. Auch das Abkommen mit den USA hatte nicht klar definiert, aus welchem Gebiet die Kurden sich zurückziehen sollten. Aus Sicht der USA und der Kurden bezog es sich auf einen Teilabschnitt der Grenze zwischen den Städten Tal Abjad und Ras al-Ain, auf den die Türkei ihre Offensive zunächst weitgehend konzentriert hatte. Erdogan hatte nach der Einigung mit den USA aber mehrfach klar gemacht, dass er den YPG-Abzug aus einem weitaus größeren Gebiet erwarte.

USA: Kurden teilten Abzug mit

Die kurdischen Kämpfer in Syrien sollen sich nach US-Angaben inzwischen aus der von der Türkei geplanten „Sicherheitszone“ zurückgezogen haben. Der Oberbefehlshaber der YPG habe US-Vizepräsident Mike Pence in einem Schreiben mitgeteilt, dass alle seine Einheiten aus dem Gebiet an der Grenze zur Türkei abgerückt seien, sagte am Dienstag ein Regierungsmitarbeiter in Washington.

„Situation in der Region ist nicht einfach“

Die Türkei hatte ihren Einmarsch in Syrien damit begründet, dort eine rund 30 Kilometer breite und 400 Kilometer lange „Sicherheitszone“ einzurichten. Russland hatte Verständnis für die Sicherheitsinteressen des Landes gezeigt und zugleich gefordert, die territoriale Unversehrtheit Syriens zu achten.

„Die Situation in der Region ist nicht einfach, das verstehen wir alle“, hatte Putin zum Auftakt der Gespräche am Nachmittag gesagt. Russland unterstützt im Syrien-Konflikt vor allem den umstrittenen Machthaber Baschar al-Assad, pflegt aber als Vermittler auch enge Kontakte zur Türkei.

Putin und Erdogan als größte Profiteure

Putin und Erdogan gelten als größte Profiteure der jüngsten von Präsident Donald Trump ausgelösten Volte der US-Außenpolitik: Putin ist seither der einzige überregionale Machtfaktor im Syrien-Konflikt. Und Erdogan kann seinen langgehegten Plan, die Kurden auf der syrischen Seite weit von der türkischen Grenze wegzudrängen, umsetzen.

Eine Grafik zeigt die derzeitige Lage in Nordsyrien
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Institute for the Study of War

Assad nennt Erdogan einen „Dieb“

Syriens Machthaber Assad beschimpfte Erdogan zuvor als „Dieb“. Erdogan habe in Syrien Fabriken, Getreide und Öl gestohlen – und jetzt stehle er syrischen Boden, sagte Assad bei einem Truppenbesuch in der Provinz Idlib, wie die staatliche Agentur SANA am Dienstag meldete. Ohne die Kurden direkt zu nennen, spielte er zugleich auf deren Schicksal nach dem Einmarsch türkischer Truppen in Nordsyrien an: „Wir haben euch gesagt: Wettet nicht auf das Ausland, sondern auf die Armee, das Volk und das Heimatland!“

Die EU kritisierte Erdogan am Dienstag erneut scharf: Ratspräsident Donald Tusk forderte Erdogan auf, seine Truppen aus Nordsyrien zurückzuziehen. Erdogan zeigte sich dennoch zu einem Vierertreffen mit seinen europäischen Bündnispartnern bereit. Der britische Premierminister Boris Johnson habe ein Treffen mit ihm, der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Staatschef Emmanuel Macron vorgeschlagen.

„Kleine Zahl“ von US-Soldaten bleibt in Syrien

Europäische Staaten befürchten als eine der Folgen des US-Abzugs, dass sich viele Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) wieder auf den Weg nach Europa machen könnten. Immer mehr gefangene Kämpfer der Terrormiliz und deren Angehörige, die in Camps von kurdischen Truppen überwacht wurden, sind inzwischen frei. Laut russischem Verteidigungsministerium vom Montag sind derzeit zwölf dieser IS-Gefängnisse und acht Flüchtlingscamps unbewacht.

Die USA hatten nach dem Rückzugsbefehl Trumps am Montag weiter Soldaten aus Syrien in den Irak verlegt. Allerdings werden entgegen Trumps Ankündigung nun doch US-Soldaten in Nordsyrien stationiert bleiben. Zusammen mit dem bisherigen Alliierten, den Demokratischen Kräften Syriens (SDF), solle verhindert werden, dass die Ölvorkommen in die Hände des IS oder anderer Kräfte fallen.

Esper: Berichte über Kriegsverbrechen glaubwürdig

US-Verteidigungsminister Mark Esper hält unterdessen Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen bei der türkischen Offensive in Nordsyrien für glaubwürdig. „Sie sind furchtbar und wenn sie zutreffen – und ich nehme an, dass sie zutreffen –, dann wären es Kriegsverbrechen“, sagte Esper dem Sender CNN am Dienstag bei einem Besuch in Saudi-Arabien.

„Die Verantwortlichen sollten zur Rechenschaft gezogen werden. In vielen Fällen wäre das die türkische Regierung.“ Amnesty International hatte türkischen Soldaten und mit ihnen verbündeten syrischen Milizen in der vergangenen Woche Kriegsverbrechen vorgeworfen.