EU-Flaggen und Union-Jack-Flaggen vor den Houses of Parliament in London
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Brexit-Zeitplan abgelehnt

Zeichen stehen auf Verschiebung

Der Plan von Großbritanniens Premier Boris Johnson, am 31. Oktober geregelt aus der EU auszutreten, ist nun wohl endgültig geplatzt. Am Dienstagabend entschied sich das Parlament erst gegen den beschleunigten Brexit-Fahrplan, wenig später kam aus der EU die Meldung, dass man den verbleibenden Mitgliedern eine Verlängerung vorschlagen werde. Damit stehen die Zeichen einmal mehr auf Verschiebung.

Nach der Abstimmungsniederlage sagte Johnson, dass er die weiteren Pläne für die Brexit-Gesetzgebung „pausieren“ wolle. Das kündigte er bereits im Vorfeld an – genauso wie eine Neuwahl, sollte die EU einer weiteren Verlängerung zustimmen. Davon war in Johnsons Rede am Dienstagabend jedoch – zumindest vorerst – nicht die Rede.

Am Abend schrieb die BBC-Journalistin Laura Kuenssberg aber, dass man jedenfalls auf eine Neuwahl drängen werde, wenn die EU einer Verschiebung des Brexits zustimmt. „Dieses Parlament ist völlig kaputt. Die Öffentlichkeit wird sich entscheiden müssen, ob sie den Brexit mit Boris beenden will oder ob sie das Jahr 2020 mit zwei Referenden über den Brexit und Schottland mit (Labour-Chef Jeremy, Anm.) Corbyn verbringen will“, hieß es unterdessen aus Regierungskreisen. Der früheste Neuwahltermin wäre der 28. November, schreibt die BBC.

Knappe Mehrheit gegen beschleunigtes Vorgehen

322 Abgeordnete stimmten am Abend im Unterhaus dagegen, 308 für das beschleunigte Vorgehen, mit dem der Brexit und die zugehörige Gesetzgebung noch bis 31. Oktober umgesetzt werden sollte. Johnson kündigte an, dass er nun in der Zwischenzeit mit den Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten Gespräche führen werde. Man steht jetzt vor neuer Ungewissheit, so Johnson. Es liege an der EU, „sich zu entscheiden“, was eine Verschiebung des Austrittstermins anbelangt.

Boris Johnson spricht im britischem Unterhaus
APA/AFP
Johnson legte die Brexit-Gesetzgebung auf Eis

Tusk will EU-Staaten Verschiebung empfehlen

Die Stoßrichtung der EU wurde nur wenig später vorgegeben. EU-Ratspräsident Donald Tusk will den EU-Mitgliedsstaaten empfehlen, die von Großbritannien erbetene Verlängerung der Brexit-Frist anzunehmen. Das sollte geschehen, um einen ungeregelten EU-Austritt zu verhindern, so Tusk am Abend auf Twitter. Unklar ist bisher, wie lange die EU Aufschub gewähren könnte – bisher war von mehreren Monaten die Rede, im Raum steht offenbar aber auch ein kürzerer Aufschub.

Frankreich indes kann sich eine kurze Verschiebung des Austrittstermins vorstellen. „Wir werden Ende der Woche sehen, ob eine rein technische Verlängerung von einigen Tagen gerechtfertigt ist“, sagte Europastaatssekretärin Amelie de Montchalin am späten Dienstagabend, wie die französische Nachrichtenagentur AFP berichtete.

Neue Verhandlungen über das Austrittsabkommen der EU mit London lehne Frankreich hingegen ab. Eine Sprecherin von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker schrieb unterdessen auf Twitter, man nehme das Ergebnis der Abstimmungen in Großbritannien zur Kenntnis. Nun erwarte man Informationen von der britischen Regierung über die nächsten Schritte.

Erstmals Zustimmung für Brexit-Deal im Unterhaus

Das britische Parlament stimmte zuvor für das Gesetz zum Brexit-Deal von Johnson. 329 Abgeordnete stimmten dafür, 299 dagegen. Damit ist es Johnson gelungen, zum ersten Mal überhaupt seit dem Referendum, eine Mehrheit für ein Brexit-Abkommen zu finden. Seine Vorgängerin Theresa May scheiterte mit ihrem Abkommen gleich dreimal im Unterhaus – von Abstimmung zu Abstimmung jedoch weniger deutlich.

Britische Journalistinnen und Journalisten werteten das Ergebnis für Johnson jedenfalls als Erfolg: Es sei ihm gelungen, die Torys – auch den Großteil jener Abgeordneten, die er aus dem Klub ausschloss – hinter dem Deal zu vereinen. Auch einige Labour-Abgeordnete schlossen sich mit einem „Aye“ Johnsons Deal an.

Corbyn fordert von Johnson Entgegenkommen

Nach Johnsons Niederlage beim Zeitplan übte der Chef der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, Kritik am Premier. Dieser sei „der Autor seines eigenen Unglücks“. Er forderte von Johnson, dass dieser nun mit allen Kräften im Parlament an einem „vernünftigen Zeitplan“ arbeite. Das sei das „Angebot, das ich Ihnen im Namen der Opposition mache“, so Johnson.

Die Chefin der Liberaldemokraten, Jo Swinson, sagte unterdessen der BBC, dass Labour dem Brexit-Deal von Johnson eine Chance eingeräumt habe. 19 Labour-Abgeordnete stimmten entgegen der Parteilinie. Swinson plädierte für eine weitere Verlängerung. Johnson solle seinen „Stolz herunterschlucken und ein paar ernsthafte und respektvolle Gespräche mit unseren Partnern in der EU führen“, so Swinson.

Parlamentspräsident John Bercow bezeichnete das von Johnson vorgelegte Brexit-Gesetz unterdessen als „in der Schwebe“. Auf die Nachfrage eines Abgeordneten, was er damit meine, sagte Bercow: „Das Gesetz ist nicht tot, aber inaktiv“, es sei „auf keiner Reise, es geht nicht voran, man könnte sagen: Es ist statisch.“ „Es ist keine Leiche“, zitierte die BBC den Ende Oktober scheidenden Bercow.

Wenig Zeit für 110-Seiten-Abkommen

Hätte das Parlament der Beschleunigung des Brexit-Zeitplans zugestimmt, wäre die Zeit für eine genaue Analyse des Brexit-Gesetzes knapp geworden. Die Abgeordneten hätten nur knapp drei Tage Zeit gehabt, das erst am Montagabend vorgelegte und 110 Seiten starke Gesetz zu untersuchen.

Brexit-Chaos geht weiter

Wie geht es nach der Abstimmungsniederlage für Boris Johnson mit dem Brexit weiter? ORF-London-Korrespondentin Eva Pöcksteiner erklärt die nächsten möglichen Schritte.

Geregelt ist darin etwa die von Johnson ausgehandelte Lösung in der Irland-Frage. Diese sieht etwa eine Sonderreglung für Nordirland beim Zoll vor. Die DUP, auf deren Unterstützung Johnson angewiesen ist, lehnt eine solche ab – auch am Dienstag stellte sie sich gegen die Pläne Johnsons.

Nächste Niederlage für Johnson

Johnson hatte erst am Montag und zuvor schon am Samstag schwere Niederlagen hinnehmen müssen: Parlamentspräsident Bercow ließ eine Abstimmung am Montag über den neuen Brexit-Deal nicht zu. Er begründete seine Ablehnung damit, dass der Entwurf der Regierung in seinem Inhalt der gleiche wie der am Samstag abgelehnte sei. Auch die Umstände hätten sich nicht geändert. Die Abgeordneten hatten stattdessen dafür votiert, die Entscheidung zu verschieben. Damit wollten sie einen Chaos-Brexit ausschließen.

Der Premier hatte schließlich auf Geheiß seines Parlaments – widerwillig und ohne Unterschrift – eine Verlängerung der Austrittsfrist bis Ende Jänner beantragt. Es liegt nun an den EU-Staaten, diesen zu bewilligen – sonst ist wohl auch noch ein ungeregelter Austritt Großbritanniens aus der EU am 31. Oktober denkbar.