Geteilte EU-UK-Fahne
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Tage, Wochen oder Monate?

EU sucht Linie zu Brexit-Aufschub

Nach der Abstimmungsniederlage des britischen Premiers Boris Johnson bei der Brexit-Gesetzgebung in London wollen die 27 bleibenden EU-Staaten am späten Mittwochnachmittag über eine mögliche Verschiebung des britischen EU-Austritts beraten. Aus diplomatischen Kreisen in Brüssel hieß es am Mittwoch, die Länge der neuen Frist sei noch zu klären. Nötig sei eine Ansage aus London, wie dort der Zeitplan aussieht, sagte ein EU-Diplomat.

Unklar ist bisher, wie lange die EU Aufschub gewähren könnte – bisher war von mehreren Monaten die Rede, im Raum steht aber auch ein kürzerer Aufschub. Das britische Unterhaus hatte zwar am Dienstagabend einmal grundsätzlich Ja zu dem von Johnson mit der EU vereinbarten Brexit-Deal gesagt und ihn für weitere Beratungen akzeptiert. Unmittelbar darauf wandte sich eine Mehrheit der Abgeordneten jedoch gegen die straffen Brexit-Pläne Johnsons, der das Gesetzgebungsverfahren binnen drei Tagen durchziehen wollte.

Johnson legte das Gesetz daher vorerst auf Eis. Er kündigte an, dass er in der Zwischenzeit mit den Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten Gespräche führen werde. Man stehe jetzt vor neuer Ungewissheit, so Johnson. Es liege an der EU, „sich zu entscheiden“, was eine Verschiebung des Austrittstermins anbelangt. Daraufhin empfahl EU-Ratspräsident Donald Tusk den EU-Staaten eine Verlängerung der Brexit-Frist entsprechend dem britischen Antrag bis 31. Jänner. Nötig ist eine einstimmige Entscheidung der 27 bleibenden Staaten. Sollte es zu einem Aufschub kommen, wäre es bereits der dritte.

Irland will Aufschub bis 31. Jänner

Als Erster der verbleibenden 27 EU-Staats- und Regierungschefs äußerte am Mittwoch der irische Premier Leo Varadkar seine Zustimmung zu einer Verlängerung der Brexit-Frist bis 31. Jänner 2020. Nach einem Telefonat Varadkars mit EU-Ratspräsident Tusk teilte die irische Regierung in Dublin mit, die Frist lasse einen früheren Austritt für Großbritannien offen, sollte der ausgehandelte Deal vor Ablauf dieser Frist in britisches Recht umgesetzt worden sein.

Deutschland stellt Bedingungen

Erste Reaktionen aus Frankreich deuten hingegen darauf hin, dass Paris womöglich eine kürzere Frist möchte. „Wir werden Ende der Woche sehen, ob eine rein technische Verlängerung von einigen Tagen gerechtfertigt ist“, sagte Europastaatssekretärin Amelie de Montchalin am späten Dienstagabend, wie die französische Nachrichtenagentur AFP berichtete. Neue Verhandlungen über das Austrittsabkommen der EU mit London lehne Frankreich hingegen ab.

Deutschland zeigte sich offen, Großbritannien eine kurze Verschiebung des Brexit-Termins zu gewähren. An Deutschland werde eine Verlängerung nicht scheitern, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch in Berlin.

Der abermalige Aufschub müsse aber begründet sein, sagte Außenminister Heiko Maas schon zuvor dem Sender n-tv am Mittwoch. Falls es sich um eine Verzögerung von zwei oder drei Wochen handle, damit die Abgeordneten in London die Brexit-Gesetzgebung abschließen könnten, dann sollte es kein Problem seien. Maas will eine mögliche Brexit-Verschiebung bis Ende Jänner allerdings an Bedingungen knüpfen, wie er später den Sendern RTL und n-tv sagte. Großbritannien müsse detailliert darlegen, was bis zum Austrittstermin geschehen werde und ob in dieser Zeit Wahlen stattfinden würden, so Maas. Bevor die EU eine Entscheidung über eine Brexit-Verlängerung treffen könne, müsse sie wissen, „was die Briten vorhaben und was Johnson vorhat“.

Tusk telefonierte mit Johnson

Der EU-Ratspräsident telefonierte unterdessen mit dem britischen Premier. Das bestätigte ein Sprecher Tusks in Brüssel. Tusk selbst twitterte: „Ich habe die Gründe dargelegt, warum ich den EU-27 empfehle, den britischen Antrag für eine Fristverlängerung zu akzeptieren.“ Details aus dem Telefonat wurden nicht bekannt.

Auch EU-Parlamentspräsident David Sassoli sprach sich dafür aus, Großbritannien Aufschub bis Ende Jänner 2020 zu gewähren. „Ich halte es für ratsam so wie von (Rats-)Präsident Donald Tusk vorgeschlagen, dass der Europäische Rat diese Verlängerung akzeptieren sollte“, teilte Sassoli am Mittwoch in Straßburg mit.

Wie gehts es vonseiten der EU weiter?

In der verfahrenen Brexit-Situation gibt es mehrere Möglichkeiten, erläutert ORF-Korrespondent Peter Fritz aus Brüssel.

„Die Verlängerung würde es dem Vereinigten Königreich erlauben, seine Position zu klären, und es würde dem Europäischen Parlament erlauben, seine Rolle auszuüben“, sagte Sassoli. Das EU-Parlament entscheidet nicht über die Verlängerung. Es muss aber am Ende ein Austrittsabkommen zwischen der EU und Großbritannien ratifizieren.

Neuwahl als Ausweg?

Spekuliert wird, ob Johnson als Ausweg aus der Situation eine Parlamentswahl anstrebt. Davon war in Johnsons Rede am Dienstagabend allerdings jedoch nicht die Rede. Am Abend schrieb die BBC-Journalistin Laura Kuenssberg aber, dass man jedenfalls auf eine Neuwahl drängen werde, wenn die EU einer Verschiebung des Brexits zustimmt.

Boris Johnson spricht im britischem Unterhaus
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Johnson legte die Brexit-Gesetzgebung auf Eis

„Dieses Parlament ist völlig kaputt. Die Öffentlichkeit wird sich entscheiden müssen, ob sie den Brexit mit Boris beenden will oder ob sie das Jahr 2020 mit zwei Referenden über den Brexit und Schottland mit (Labour-Chef Jeremy, Anm.) Corbyn verbringen will“, hieß es unterdessen aus britischen Regierungskreisen. Der früheste Neuwahltermin wäre der 28. November, schreibt die BBC.

Auch Signale aus Opposition

Vertreter mehrerer Oppositionsparteien signalisierten am Mittwoch grundsätzlich Bereitschaft, einer Neuwahl zuzustimmen. Vonseiten der Liberaldemokraten hieß es nach Informationen der britischen Nachrichtenagentur PA, die Partei habe „keine Angst vor einer Neuwahl“. Ziel der proeuropäischen Partei bleibe es weiter, den Brexit noch vollends zu stoppen. Auch vonseiten der schottischen SNP kamen Signale der Bereitschaft zu einer Neuwahl.

Die Labour-Partei als größte Oppositionskraft hatte Johnson lange den Wunsch nach einer Neuwahl verweigert und stattdessen ein zweites Brexit-Referendum angestrebt. Corbyn vertritt inzwischen aber Medienberichten zufolge die Sichtweise, eine weitere Verweigerungshaltung könnte sich negativ auf die Partei auswirken.

Corbyn: Johnson „Autor des eigenen Unglücks“

Nach Johnsons Niederlage beim Zeitplan übte Corbyn Kritik am Premier. Dieser sei „der Autor seines eigenen Unglücks“. Er forderte von Johnson, dass dieser nun mit allen Kräften im Parlament an einem „vernünftigen Zeitplan“ arbeite. Das sei das „Angebot, das ich Ihnen im Namen der Opposition mache“, so Johnson.

Zeichen stehen auf Brexit-Verschiebung

Der Plan von Premier Johnson, am 31. Oktober geregelt aus der EU auszutreten, scheint endgültig geplatzt. Die Zeichen stehen erneut auf Verschiebung des britischen EU-Austritts.

Die Chefin der Liberaldemokraten, Jo Swinson, sagte unterdessen der BBC, dass Labour dem Brexit-Deal von Johnson eine Chance eingeräumt habe. 19 Labour-Abgeordnete stimmten entgegen der Parteilinie. Swinson plädierte für eine weitere Verlängerung. Johnson solle seinen „Stolz herunterschlucken und ein paar ernsthafte und respektvolle Gespräche mit unseren Partnern in der EU führen“, so Swinson.

Parlamentspräsident John Bercow bezeichnete das von Johnson vorgelegte Brexit-Gesetz unterdessen als „in der Schwebe“. Auf die Nachfrage eines Abgeordneten, was er damit meine, sagte Bercow: „Das Gesetz ist nicht tot, aber inaktiv“, es sei „auf keiner Reise, es geht nicht voran, man könnte sagen: Es ist statisch.“ „Es ist keine Leiche“, zitierte die BBC den Ende Oktober scheidenden Bercow.