Scheidender Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker winkend
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Die Ära Juncker

Bussis, Pointen und „Diktator“-Watschen

Es war eine ereignisreiche Zeit, in der Jean-Claude Juncker Präsident der EU-Kommission war. In den letzten fünf Jahren beteiligte er sich maßgeblich an der Rettung Griechenlands, rang um zwei Brexit-Deals, kämpfte für eine EU-Migrationsstrategie und scheiterte an seinem großen Plan der Bankenunion. Über ihm schwebte die „Luxleaks“-Affäre wie ein Damoklesschwert, doch ist es Junckers Bussi-Politik, die in Erinnerung bleibt.

„Sebastian, komm in meine Arme“, herzte Juncker den damaligen Bundeskanzler-Anwärter Sebastian Kurz (ÖVP) 2017 in Brüssel. Und nachdem dieser sich nicht ganz sicher war, wo er sich nun für die vielen Kameras zu platzieren habe, wies Juncker ihn darauf hin: „Du musst rechts stehen, du stehst ja rechts auf beiden Füßen.“

Das war nur eine der unzähligen, legendären Aussagen des scheidenden luxemburgischen Kommissionspräsidenten, die vor allem im deutschsprachigen Raum wohl unvergessen bleiben. Politische Witze gehörten bei Juncker ebenso zum Programm wie seine Begrüßungsküsse. Auch verursachte der scheidende Kommissionspräsident allgemeine Verwirrung, als er einer Mitarbeiterin zur Begrüßung wild durch die Haare wuschelte.

„Du stehst ja rechts auf beiden Füßen“

Kurz wurde von Juncker vor den Kameras getadelt: „Du musst dich rechts hinstellen, du stehst ja rechts auf beiden Füßen.“

„Wenn es ernst wird, muss man lügen“

Politisch steuerte Juncker die EU durch turbulente Gewässer. So schaffte er es, die endgültige Pleite des schwer verschuldeten Griechenland zu verhindern und den Euro vor seinem Untergang zu retten. „Es ist uns gelungen, Griechenland wieder die Würde zu verleihen, die es verdient hat“, sagte Juncker bei seiner Abschiedsrede Mitte Oktober in Straßburg.

Jahre zuvor irritierte Juncker noch als Euro-Gruppe-Chef mit seinem denkwürdigen Sager „Wenn es ernst wird, muss man lügen“ – als er ein Treffen der EU-Finanzminister zur Lage Griechenlands dementierte. Nicht zuletzt jedoch hatte es Griechenland während der Euro-Krise 2015 dem Kommissionspräsidenten zu verdanken, dass es nicht zum „temporären Grexit“ kam, wie es der frühere deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble vorgeschlagen hatte.

Juncker: Raushalten aus Brexit-Referendum war Fehler

Wenn der „Grexit“ auch nicht eintraf, könnte es aus jetziger Sicht am 31. Jänner 2020 jedoch zum Brexit kommen. Das Referendum für oder gegen den Verbleib Großbritanniens in der EU fiel mit dem 23. Juni 2016 mitten in Junckers Amtszeit. Erst kürzlich übte er Selbstkritik am Brexit-Chaos. So bedauert Juncker eigenen Angaben zufolge, dass er sich nicht vor dem Referendum in die britische Debatte eingemischt hatte. „Das war ein Fehler von mir“, sagte er dem RND.

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EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker steht bei einer Pressekonferenz vor vielen Mikrofonen und schneidet ein Gesicht
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Humor und Härte: Der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker war stets auch für seine Witze und Grimassen bekannt
Ungarns Premierminister Viktor Orban wird von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 3. September 2015 in Brüssel begrüßt
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Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban war für Juncker Parteifreund, aber auch -feind. „Da kommt der Diktator“, sagte Juncker einmal auf dem roten Teppich über Orban.
Frankreichs Präsident Francois Hollande, Britischer Premierminister David Cameron, Italiens Premierminister Matteo Renzi, Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, European Union Kommissions Präsident Jean-Claude Juncker, Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk, U.S. Präsidnent Barack Obama, Japan’s Premierminister Shinzo Abe and Kanadas Premier Stephen Harper bei einem Treffen der G7 in Elmau in Kruen,2015.
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Das Who’s who der G-7 bei einem Treffen in Elmau 2015
EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker bei der Verleihung des Honoris Causa im Sala dos Capelos in der Coimbra Universität in 2017
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2017 erhielt Juncker ein Ehrendiplom an der portugiesischen Coimbra-Universität
Bundespräsident Alexander Van der Bellen und EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker in der Hofburg
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Zu Besuch in der Hofburg bei Bundespräsident Alexander Van der Bellen
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gibt der deutschen Kanzlerin Angela Merkel einen Kuss auf die Wange
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Ein Bussi für die deutsche Kanzlerin Angela Merkel
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker schneidet ein entsetztes Gesicht während er dem britischer Premier Boris Johnson die Hand gibt
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Ein Brexit-Deal, aber nicht ohne Schmerzen – der britische Premier Boris Johnson und Juncker waren sich am Ende doch einig
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hält eine Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg
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Juncker vor dem Europäischen Parlament in Straßburg
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker umarmt Japans Premierminister Shinzo Abe bei einem G20-Gipfel in Osaka
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Eine Umarmung gab es für Japans Premierminister Shinzo Abe beim G-20-Gipfel in Osaka
Papst Franziskus begrüßt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Vatikan
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Papst Franziskus begrüßte Juncker im Vatikan
Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker zerzaust die Haare von Brexit-Chefverhandler Guy Verhofstadt
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Einmal Haarewuscheln beim Brexit-Chefverhandler Guy Verhofstadt
US-Präsident Donald Trump mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus in Washington
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„Alles, was die sagen, zählt nicht, sondern das, was der Kommissionspräsident sagt. ‚I am the man.‘", bestand Juncker laut eigenen Worten auf seine Autorität in Europa gegenüber US-Präsident Donald Trump.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junckerküsst die Hand der Klimaaktivistin Greta Thunberg
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Ein Handkuss dürfte Klimaaktivistin Greta Thunberg wohl nicht reichen, wenn es um die Klimapolitik der EU geht
Palestinenser Präsident Mahmoud Abbas geht Hand in Hand mit Jean-Claude Juncker
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Händchenhaltend über den roten Teppich mit dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas
Staats- und Regierungschefs winken bei einem Treffen der G7 in La Malbaie, Kanada in 2018
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Gemeinschaftliches Abschiedswinken beim G-7-Gipfel in Kanada

„Ich habe auf die britische Regierung gehört, die mir sagte, es wäre besser, wenn ich mich nicht in die innenpolitische Debatte einmischen würde“, sagte Juncker. „Vor dem Brexit-Referendum wurden so viele grobe Lügen verbreitet, dass es einer Stimme wie meiner bedurft hätte, um die Lügen mit richtigen Argumenten zu widerlegen.“

Der Luxemburger bezeichnete den anstehenden Brexit und die Verhandlungen darüber als „verschwendete Zeit und verschwendete Energie“. Immerhin wurden aber zwischen Großbritannien und der EU zwei Brexit-Deals unter Juncker ausgehandelt – einer mit der früheren Premierministerin Theresa May und der zweite mit dem jetzigen Premier Boris Johnson.

Scheitern von Beitrittsgesprächen

In puncto EU-Erweiterungsgespräche scheiterte Juncker jüngst an den Mitgliedsländern, allen voran an Frankreich, das sich vehement gegen den Beginn der Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien stellte. Für Juncker war das ein „schwerer historischer Fehler“. Er zeigte sich „sehr enttäuscht über das Ergebnis“, so der Kommissionspräsident zuletzt beim EU-Gipfel in Brüssel: Die EU müsse ihre Versprechen erfüllen.

Mit der Türkei aber kam es unter Juncker zu Beitrittsgesprächen, was die Emotionen aller Beteiligten regelmäßig hochgehen ließen. Das EU-Parlament sprach sich im November 2016 für ein „Einfrieren“ der Beitrittsgespräche aus. Diese Empfehlung ist für die EU-Kommission allerdings nicht bindend.

In enger Verbindung sollte die EU mit der Türkei vor allem durch das EU-Türkei-Abkommen („Flüchtlingsdeal“) stehen. Ziel dessen ist in erster Linie, dass syrische Flüchtlinge in der Türkei bleiben. Dazu soll die Türkei zum Beispiel ihre Grenzen nach Europa strenger kontrollieren. Außerdem gehen dafür mehrere Milliarden Euro an türkische Hilfsorganisationen. Doch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sitzt der EU im Nacken: Öfters schon drohte er mit Aufkündigung des Deals.

Keine einheitliche EU-Flüchtlingspolitik

Während der Flüchtlingskrise 2015 machte die Juncker-Kommission zwar mehrere Vorschläge, um zu einer menschenwürdigen Lösung zu kommen, scheiterte aber immer wieder an einigen Mitgliedsstaaten. Die europäische Flüchtlingspolitik war seither vor allem durch einzelne Schutzmaßnahmen an den Außengrenzen geprägt, aber auch an den Grenzen innerhalb der EU.

Zumindest hierbei kündigte sich zuletzt aber doch noch ein Fortschritt an, angestoßen durch die Juncker-Kommission 2018. 10.000 Grenzschutzbeamte und -beamtinnen sollen bis 2027 für die EU-Grenz- und Küstenschutzbehörde Frontex eingesetzt werden. Insbesondere mit den Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn gestalteten sich die Verhandlungen dazu bisher immer schwierig.

„Da kommt der Diktator“

Unterdessen verband Juncker mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban (FIDESZ) zwar die Parteifamilie der Europäischen Volkspartei (EVP), jedoch gerade in Hinblick auf Migrationspolitik und Rechtsstaatlichkeit eher wenig. „Da kommt der Diktator“, sagte der Kommissionspräsident einmal, als er Orban beim EU-Gipfel in Riga 2015 erblickte. „Hallo, Diktator“, sprach Juncker und gab Orban im Spaß eine Ohrfeige.

„Hallo, Diktator“

Seinen berühmten Sager „Da kommt der Diktator“ in Richtung Orban meinte Juncker laut eigenen Angaben nur scherzhaft.

Später erklärte der Kommissionspräsident, dass er Orban seit Jahren im Witz als „Diktator“ bezeichne. Zwar betonte er immer wieder mal auch die Freundschaft zwischen den beiden, jedoch hatte die Orban-Regierung eine Anti-Juncker- und Anti-Brüssel-Kampagne geführt, die – neben weiteren Gründen, wie der Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaat – schließlich zur Suspendierung von FIDESZ aus der EVP führte.

Weitere Arbeitsplätze durch „Juncker-Plan“ erhofft

Für den „Juncker-Plan“, den Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI), zog die scheidende Kommission pünktlich zur Abschiedsrede Junckers in Straßburg im Oktober ein positives Resümee: Das BIP konnte gesteigert und 1,1 Millionen Arbeitsplätze konnten geschaffen werden. Bis 2020 erwarte man sich durch die unter Juncker gesetzten Maßnahmen noch 600.000 Arbeitsplätze mehr, fasst die Kommission zusammen. Ein möglicher weiterer Erfolg bleibt also noch abzuwarten.

Und auch ein weiteres Juncker-Projekt ist auf den letzten Metern noch umgesetzt worden – zwei Jahre nach dem Kommissionsvorschlag. Neben nationalen Arbeitsagenturen gibt es seit Oktober auch die erste europäische Arbeitsagentur in Bratislava, die die Zusammenarbeit der Mitgliedsländer im Kampf gegen Kriminalität auf dem Arbeitsmarkt stärken soll. Ergebnisse dürften sich freilich erst in ein paar Jahren zeigen.

Bankenunion nicht vollendet

Ein Projekt, das Juncker laut eigenen Worten besonders am Herzen lag, scheiterte aber: die Vollendung der europäischen Bankenunion, einem System für die Beaufsichtigung und Abwicklung von Banken auf EU-Ebene. „Aber wenn wir zu der Wirtschafts- und Währungsunion keine Bankenunion ergänzen, dann sind wir nicht richtig vorbereitet auf interne und externe Schocks“, sagte Juncker in seiner Abschiedsrede.

Was zu einer vollständigen Bankenunion fehlt, ist die Schaffung einer europäischen Einlagensicherung. Juncker hatte angekündigt, schrittweise bis 2024 einen Fonds einzurichten, der bei Schieflagen von Banken europaweit Einlagen bis zu 100.000 Euro absichert. Doch insbesondere Deutschland befürchtete bis zuletzt, am Ende für Pleiten von Geldhäusern in kriselnden Euro-Staaten geradestehen zu müssen.

Jedoch gibt es nun erste Hinweise darauf, dass sich Deutschland doch bewegt. In einem Gastkommentar der „Financial Times“ („FT“) schrieb der deutsche SPD-Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz, er ziehe eine EU-weite Rückversicherung für Bankeinlagen in Betracht. Er verstehe, dass Kompromisse notwendig seien, so Scholz, um die Bankenunion zu vollenden.

„Luxleaks“ – keine Konsequenzen

Über alledem schwebte die „Luxleaks“-Affäre, bei der es um den Vorwurf von Steuerbegünstigung großer Konzerne im Großherzogtum Luxemburg ging. Whistleblower hatten die Unterlagen an Journalistinnen und Journalisten weitergegeben. Auf Kosten der Nachbarländer sei es Apple, Amazon, eBay und Co. möglich gewesen, immense Steuervermeidung zu realisieren, ergaben die Recherchen vom Internationalen Netzwerk investigativer Journalisten (ICIJ). Ihre Steuern ließen sich laut „Luxleaks“ so auf unter ein Prozent drücken. Juncker war zu der Zeit, auf die sich die Vorwürfe beziehen, Ministerpräsident von Luxemburg gewesen.

Vor dem Sonderausschuss des EU-Parlaments stritt Juncker als amtierender Kommissionspräsident jede Verwicklung ab. Konsequenzen gab es für ihn keine, und auch in Luxemburg zeichnen sich keine Veränderungen ab – die Anzahl der Steuerdeals stieg nach Angaben des Netzwerks Eurodad sogar noch. Jahre später sagte Juncker, sein Umgang mit „Luxleaks“ zähle – neben dem Brexit – zu einem der größten Fehler seiner Amtszeit. „Ich hätte sofort reagieren sollen“, so Juncker im Mai 2019 bei einem Treffen der EU-Staats- und -Regierungschefs in Rumänien. „Es war ein großer Fehler, und ich habe (davor, Anm.) zu viel Zeit verschwendet, um darauf zu reagieren.“

Juncker-Kommission in Verlängerung

Sein Privatleben konnte der Jurist, der Luxemburgisch, Französisch, Deutsch und Englisch spricht, nicht immer aus den Medien halten. Nach einem Autounfall 1989 lag er zwei Wochen im Koma und musste danach laut eigenen Angaben das Gehen wieder erlernen. Seither leidet Juncker an einem beschädigten Ischiasnerv. Gehprobleme kurbelten die Gerüchteküche an, Juncker hätte Alkoholprobleme, was den scheidenden Kommissionspräsidenten heute aber nicht mehr tangiere, sagte er dem RND. „Am Anfang hat mich das sehr gestört“, so der Luxemburger. Mittlerweile interessiere er sich aber nicht mehr für Gerüchte um ihn.

Am Montag soll der scheidende Kommissionspräsident wegen eines Aneurysmas operiert werden. Erst im August musste er sich einer Operation an der Gallenblase unterziehen. Eigentlich wollte sich der 64-Jährige schon Anfang November in den Ruhestand verabschieden, jedoch muss Juncker nun noch einen Monat länger ausharren, wenn auch nur geschäftsführend. Denn da das Personalpaket der designierten EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen nicht komplett war, wird ihre Kommission erst am 1. Dezember das Amt antreten.