Der britische Premier Boris Johnson
AP/Kirsty Wigglesworth
Briten wählen doch

Poker mit höchst ungewissem Ausgang

Jetzt wird also doch gewählt. Im britischen Gezerre rund um den Brexit werden am 12. Dezember die Karten neu gemischt. Im x-ten Anlauf brachte Premier Boris Johnson seine Neuwahlpläne im Parlament durch. Doch der Plan ist riskant: Ob seine Torys eine Unterhausmehrheit erringen und einen Brexit-Deal durchbringen können, steht in den Sternen. Vieles spricht dafür, dass die Vorherrschaft von nur zwei Parteien, Torys und Labour, mit der Wahl endgültig endet.

Immer wieder fällt der Vergleich mit Johnsons Vorgängerin Theresa May, die 2017 eine Neuwahl ausgerufen hatte, weil sie dachte, damit ihre Mehrheit im Parlament ausbauen zu können. Der Plan endete als Schuss ins Knie: Die Torys verloren die „Absolute“ und mussten sich die nordirische Democratic Unionist Party (DUP) als Mehrheitsbeschaffer ins Boot holen. Doch die Partei widersetzte sich, die mit der EU ausgehandelten Brexit-Deals zu unterstützen. Zuletzt verloren die Konservativen mit Parteiaustritten selbst diese knappe Mehrheit.

Ob Johnsons Partei nach der Wahl genügend Mandate hat, um alleine den Brexit-Kurs zu bestimmen, ist zumindest fraglich. Es ist jedenfalls ein Poker mit hohem Einsatz: Denn es gibt, das zeigte sich schon im Gezerre der vergangenen Monate, keine andere Partei, die Johnsons Kurs mitträgt. Damit ist weit und breit kein potenzieller Koalitionspartner in Sicht.

Prominente Abgänge bei den Torys

Der Kern von Johnsons Wahlkampf wird sein, zu versprechen, dass er den Brexit unter Dach und Fach bringen wird. Und dafür muss er die Schuld an den bisherigen Verzögerungen dem Parlament und den anderen Partei zuschieben – eine Strategie, die er schon bisher angewendet hatte.

Brexit – Termine und Übergangsphasen (Zeitleiste)
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Verkraften müssen die Torys die zahlreichen Abgänge der vergangenen Wochen und Monate. Viele prominente Spitzenpolitiker hatten sich im Brexit-Streit von der Partei verabschiedet, vor allem das Engagement des umstrittenen Beraters Dominic Cummings, der vor wenig zurückschrecken soll, stieß viele Konservative vor den Kopf.

Zuletzt kündigten am Mittwoch Ex-Innenministerin Amber Rudd und David Lidington, der De-facto-Stellvertreter Mays war, ihren Rückzug aus der Politik an. Manche britische Medien werteten die Austritte als eine Art „Gleichschaltung“ innerhalb der Partei: Innerhalb der Partei habe Johnson seinen Kurs nun durchgesetzt.

Liberaldemokraten im Aufwind

Das könnte freilich seinen Preis haben: Erwartet wird, dass die Torys einen Teil ihrer EU-freundlichen Wählerschaft verlieren werden. In Schottland wird dadurch wohl die Schottische Nationalpartei (SNP) profitieren. Noch mehr Mandate könnten an die Liberaldemokraten (Lib Dems) verloren gehen, die vor allem in urbanen Gebieten und in Südengland mit ihrer Forderung nach einem zweiten EU-Referendum sehr erfolgreich sein könnten.

Der 39-jährigen Neo-Parteichefin Jo Swinson wird sogar zugetraut, nach Jahren der Misserfolge wieder an die Rekordergebnisse von 2005 und 2010 anzuschließen, als die Lib Dems rund 60 Sitze im Parlament hatten. Auch den Grünen wird ein Zulauf attestiert, angesichts des Mehrheitswahlrechts dürften sich die Mandatsgewinne aber in engen Grenzen halten.

Neo-Parteichefin der Liberalen Jo Swinson
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Swinson ist erst seit Sommer Parteichefin der Liberalen

Was erreicht die Brexit-Partei?

Kaum einzuschätzen ist, wie die Brexit-Partei von Nigel Farage abschneiden wird, die sich für einen Austritt der Briten aus der EU ohne Abkommen einsetzt. Die Partei war erst im Jänner gegründet worden, nachdem Farage wenige Monate zuvor aus „seiner“ Partei UKIP ausgetreten war. The Independent Group for Change wurde ebenfalls erst im Februar gegründet und besteht im Wesentlichen aus Dissidenten von Labour und Torys. Die Hoffnungen auf eine starke Alternative weilten aber nicht lange, einige führende Köpfe der Gruppierung wanderten bald zu den Liberaldemokraten ab. Relativ stabil sollten die kleinen Regionalparteien wie die nordirische DUP und Plaid Cymru aus Wales bleiben.

Gefährliches Spiel auch für Labour

Dass es nun überhaupt zu einer Neuwahl kommt, hat Johnson der Labour Party zu verdanken. Deren Chef Jeremy Corbyn lenkte ein und versprach umgehend „die größte Wahlkampagne aller Zeiten“. Man werde „total vereint, total entschlossen“ in diesen Wahlkampf gehen, so Corbyn. Allerdings war Labour in den vergangenen Jahren alles andere als „total vereint“. Auch hier kehrten etliche prominente Mitstreiter der Partei den Rücken. Und etliche Stimmen innerhalb der Partei sehen die Neuwahl angesichts ernüchternder Umfragewerte eher als Gefahr denn als Chance.

Labour Party Leader Jeremy Corbyn
APA/AFP/Isabel Infantes
Corbyn ist als Labour-Chef alles andere als unumstritten

Denn die Partei hatte mit ihrem unentschlossenen und lavierenden Brexit-Kurs weder die EU-Befürworter noch die EU-Gegner begeistern können. Nun will die Partei einen mit der EU ausgehandelten Brexit-Deal einem weiteren Referendum unterziehen. Ansonsten wird Corbyn vor allem auf andere Wahlkampfthemen setzen: Die Wiederverstaatlichung von Bahn, Wasser und Elektrizität ist Corbyn Leib- und Magenthema. Auch Sicherheit, Schulsystem und den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) wollen die Sozialdemokraten ins Zentrum des Wahlkampfs stellen.

„Kleinparteien“ auf den Vormarsch

Von einer Parlamentsmehrheit ist Labour – sollte sich in den nächsten Wochen kein politisches Erdbeben ereignen – Lichtjahre entfernt. Aber bei einem sehr guten Abschneiden könnte sich zumindest theoretisch eine Koalition jenseits der Torys ausgehen. Mit einem neuerlichen Referendum in Griffweite wären die Karten für den Brexit völlig neu gemischt. Ein Stolperstein auf diesem Weg könnte aber die Person Corbyn sein: Ob Liberaldemokraten und SNP ihn als Premier akzeptieren, ist fraglich.

Eines scheint jedenfalls jetzt schon klar zu sein: Bei der Zukunft Großbritanniens haben die „Kleinparteien“ ein gehöriges Wort mitzureden. Nur einmal, 2010 bis 2015, gab es in den vergangenen Jahrzehnten eine Koalition, damals regierte David Cameron gemeinsam mit den Liberaldemokraten. Die Zeiten, in denen Labour und Torys abwechselnd, aber zumindest einigermaßen im Alleingang das Schicksal des Landes bestimmen konnten, scheinen vorbei. Dass diese Entwicklung für Entscheidungen schwierig sein kann, haben die Hängepartien im Parlament in den vergangenen Monaten deutlich gezeigt.

Umfragen kaum zuverlässig

Bei allen Spekulationen sorgt ein weiterer Faktor dafür, dass kaum einzuschätzen ist, was bei der Wahl am 12. Dezember tatsächlich passiert. Die Umfragewerte gehen je nach Institut extrem auseinander, sie schwanken für die Konservativen und für Labour um bis zu zehn Prozentpunkte. Dass die Meinungsforscher große Probleme bei ihren Erhebungen haben, wissen sie selbst – und das nicht erst seit den vergangenen beiden Parlamentswahlen und dem EU-Referendum, bei denen die Prognosen weit neben den tatsächlichen Ergebnissen lagen.

Klassische Telefonumfragen würden bei Weitem nicht mehr das ganze Gesellschaftsspektrum abdecken können, hieß es in einem „Guardian“-Bericht im September. Und Onlineumfragen gelten gemeinhin als noch weniger zuverlässig. Für genauere Methoden müssten noch viel mehr Menschen befragt werden, vor allem weil Prozentangaben zwar ein Stimmungsbild, aber bei dem Mehrheitswahlrecht mit Wahlkreisen kaum gute Mandatsprognosen liefern können. Solche Umfragen sprengen allerdings die Kosten.

Immer weniger Stammwähler

Noch viel schwerer wiege allerdings, dass sich die politische Landschaft in Großbritannien verändert habe. Während der Vorherrschaft der beiden Großparteien, Konservative und Labour, seien Vorhersagen noch recht einfach gewesen. Doch mittlerweile gibt es auch in Großbritannien viel mehr Wechselwähler – und mit den Liberaldemokraten, der SNP, der Brexit-Partei und den Grünen stärker werdende „Kleinparteien“. Und am unberechenbarsten seien jene Wählerinnen und Wähler, die eigentlich einer der Großparteien zugerechnet werden können, deren Brexit-Kurs aber nicht unterstützen, also konservative EU-Befürworter und Labour wählende Brexiteers.