Pasmur Rachuiko steht inmitten seiner Bilder im Moskauer Gogol-Zentrum, auf der Glatze ein hippes Seemannshäubchen, und tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. Eigentlich möchte der junge Mann kein Interview geben, erstens findet er, dass sein Englisch nicht gut genug ist, und zweitens, überhaupt … Als Rachuiko sich dann doch zu einem Gespräch bereiterklärt, bleibt er wortkarg. Über Politik will er nicht sprechen, er will seinen Bildern da keinen interpretativen Ballast aufbürden.
Auf den Gemälden sieht man Plattenbauten irgendwo im Nirgendwo, drinnen und davor einzelne bewaffnete Sicherheitskräfte und Zivilisten, die regungslos verharren und den Betrachter ausdruckslos anstarren, flankiert immer wieder von vollverschleierten Frauen und von Tieren. Alle Menschen in seinen Bildern haben dasselbe Gesicht: das Gesicht des Malers. Der Gegensatz der symbolisch aufgeladenen Figuren und der Statik der Szenerie führt zu einer Dissonanz, die lange nachklingt. Die exkludierende Staatsmacht hier, dort das Randständige, das in seiner Exklusion verharrt. Es gibt keine Kommunikation, kein Andocken an die Welt da draußen.
Schnecken essen statt Kapitalismus frönen
Auch Rachuiko dockt nur dort an, wo er will – nämlich an die Kunstszene. Privat hat er sich für ein Leben an der äußersten Peripherie entschieden. Irgendwo auf dem Land lebt er sein Experiment radikaler Selbstversorgung, um nicht Teil eines kapitalistischen Systems sein zu müssen, dessen Auswüchse er ablehnt. Fürs Eiweiß züchtet er Schnecken, sonst findet er das meiste, was er braucht, im Wald. Er hat sich freiwillig für ein Leben am Rand entschieden.
Der neue Seestadt-Stil
Andere sind dazu gezwungen. Wohnraum wird immer rarer und teurer in zentrumsnahen Moskauer Bezirken, selbst schnöde Plattenbauwohnungen bewegen sich zum Teil schon auf dem Preisniveau von Wien. Deshalb wird knapp außerhalb der Stadt wie wild gebaut, Förderungen werden verteilt, Baufirmen verdienen sich eine goldene Nase. Eine riesige Wohnsiedlung nach der anderen sprießt auf der grünen Wiese aus dem Boden, immer gleich für mehrere zehntausend Menschen dimensioniert.
Optisch kann man sich das vorstellen wie das neue Wiener Sonnwendviertel und die Seestadt, nur mit höheren Gebäuden und ohne die verspielte Luftigkeit drumherum. Statt kalten Graus dominieren Weiß, Schwarz und bunte Elemente. Nur die Verwaltung hinkt mit dem Ausbau der Infrastruktur heillos hinterher, schon jetzt stehen stundenlange Pendlerstaus an der Tagesordnung – und es wird jeden Tag schlimmer. Der öffentliche Verkehr ist unzureichend, aber Jobs gibt es nur in der Stadt.
Irre YouTube-Videos und Gefängnistattoos
Eine dieser Siedlungen ist Nowomolokowo. Ein Großteil der Häuser ist schon bezogen. Vom alten Ortskern sieht man nur noch ein paar traditionelle Datschas verloren im Schatten der Hochhäuser stehen. Dort wurde eine Künstlerschar einquartiert, um mit den Bewohnerinnen und Bewohnern kulturelle Pflöcke einzuschlagen. In einem Voting soll eine Skulptur für den zentralen Platz bestimmt werden. Kinder haben sich in Zeichnungen in Beziehung zu ihrer Siedlung gesetzt. In noch leeren Erdgeschoßräumen werden künstlerische Akzente gesetzt – etwa eine Zunge, die sich keck der Außenwelt entgegenstreckt. Und sogar ein Petanqueplatz wird kurzerhand als soziale Installation in Szene gesetzt.
Die Frage, die hier implizit gestellt wird: Schafft es Russland, die Peripherie neu zu erfinden? Bisher denkt man dabei eher an Jugendliche in Sibirien, die mit lebensgefährlichen YouTube-Stunts auf sich aufmerksam machen, an wodkasaufende Dorfbewohner, an endlose Plattenbausiedlungen, soziale Tristesse, Brutalismus und schaurige Gefängnistattoos. Ein Image, das sich übrigens eine junge Generation an Musikerinnen, Malern und Fotografinnen spielerisch zu eigen macht.
Das Festhalten am Plattenbau
Auch Hannes Zebedin beschäftigt sich in seiner Kunst mit Plattenbauten, in einer von Kulturattache Simon Mraz und seinem Team konzeptionieren Ausstellung in einer ehemaligen Papierfabrik, in der Österreich seit letztem Jahr ein Auslandsatelier unterhält. Dort platzierte Zebedin ein Foto, das zeigt, was als immerhin noch gut funktionierendes Relikt der auch sonst heruntergewirtschafteten Sowjetunion blieb: verdreckte Platten. Die Kommunikation mit der Außenwelt und auch die internen Interaktionen im Plattenbau stellt Zebedin in seiner Installation dar – mit einem Funkturm und einem Radiogerät.
Hintergrund seiner Beschäftigung mit dem Wohnbau des realen Sozialismus ist die Bestrebung der Behörden, möglichst viele Plattenbauten abzureißen und wieder neu hochzuziehen – höher, mit mehr Wohnraum für mehr Profit. Dabei müssen die jetzigen Bewohner dem Abriss zustimmen, weil ihnen nach der demokratischen Wende ihre Wohnungen geschenkt wurden – sie sind Eigentümer. Viele haben seither echtes Geld in die Renovierung ihrer Wohnungen gesteckt, es laufen zahllose Kredite. Deshalb kommt es zur skurrilen Situation, dass sich ein guter Teil der Hausgemeinschaften dafür entscheidet, lieber ihre hässlichen Plattenbauten zu behalten, als sie durch Gebäude im Seestadt-Stil ersetzen zu lassen.
Messie oder Kurator?
Solche Geschichten sammelt Mraz, und einmal im Jahr wird dann daraus eines seiner ausufernden Projekte, mit denen er sich weit über Russlands Grenzen hinaus einen Namen gemacht hat – Mraz ist mit seinen unkonventionellen Ideen mittlerweile ein Liebkind internationaler Feuilletons. Und er ist Netzwerker. Bei den Ausstellungen, die derzeit in Moskau und Umgebung gezeigt werden, machen neben russischen Institutionen und Kunstschaffenden auch solche aus Österreich mit.
Ein besonders feines Unterfangen hat Mraz mit dem Wien Museum umgesetzt – ein Projekt, auf das man erst einmal kommen muss. Man kann Geschichten so oder so erzählen. Man könnte etwa sagen, der pensionierte Mechaniker Lew Schelesnjakow ist ein Hoarder, der nichts wegschmeißen kann, ein Messie, bei dem sich Schrott stapelt. Oder man könnte sagen, er hat ein „Museum der Industriellen Kultur“ aufgebaut. Das Endprodukt ist dasselbe: eine riesige Blechhalle außerhalb Moskaus, wild vollgestopft mit Gerümpel.
Auf der Müllhalde der Geschichte
Das Wien Museum zeigte zuletzt eine Ausstellung über Storage-Hallen. Auf Screens in Schelesnjakows Durcheinander sind Ausschnitte der Schau zu sehen. Die Halle ist eine Art Storage-Center für die materialisierte Sowjetideologie. Hometrainer, mit denen man Strom erzeugen kann, finden sich neben Stalin-Büsten, Motorräder mit dem kyrillischen „CCCP“ darauf neben kühn designten Fernsehern, alles ist mit einer ordentlichen Staubschicht überzogen, und das diffuse Licht, das durch die dreckigen Fenster spärlich auf die Müllhalde der Geschichte fällt, macht die Szenerie umso mystischer.
Die Peripherie, also das, was weit weg ist, das, was am Rand ist, muss nicht immer geografisch verortet sein. Oft schaffen andere Faktoren den Abstand zur Mitte einer Gesellschaft: die religiöse Zugehörigkeit, Armut, die sexuelle Identität und die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen – schließlich leben zwar alle im Hier und Jetzt, aber manche so, wie andere vor 100 Jahren gelebt haben, und wieder andere so, dass man an Science-Fiction denkt.
All diese Überlegungen fließen in die Dutzenden Positionen ein, die Mraz im Rahmen seiner aktuellen Ausstellungen zeigt. Die Vorstadt, die Plattenbauten, der Sammler in seiner Lagerhalle, der Künstler, der Schnecken isst, um dem Kapitalismus zu entrinnen, auf der anderen Seite Bauträger, die mit minimalen Mitteln maximalen Profit erwirtschaften wollen, dazu noch Politiker, die an genau diesem Profit mitnaschen: Kräfte ziehen und zerren um die Weiterentwicklung der Peripherie. Es geht um Geld, Status – und darum, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Umso wichtiger ist künstlerische Reflexion – im besten Sinne so wie hier in Moskau unter den Fittichen von Mraz.