Der Ganges in Kolkata
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Josef Winkler

Tod und Ritus in „Kalkutta“

2006 hat der Büchner-Preisträger Josef Winkler einen Monat in der indischen Metropole Kalkutta (offiziell Kolkata) verbracht. Seine dort entstandenen Aufzeichnungen verdichtet er in seinem neuen Buch „Der Stadtschreiber von Kalkutta“ zu einem virtuosen Stillleben, in dem er die Themen Tod und Ritus einmal mehr bildgewaltig variiert.

Im Oktober 2006 war Indien das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Im Anschluss ersonnen die Veranstalter ein besonderes Programm zum Kulturaustausch. Sechs indische Schriftsteller wurden nach Deutschland eingeladen und sechs Autoren aus dem deutschen Sprachraum konnten auf Einladung des Goethe-Instituts für mehrere Wochen in Indien schreiben. Unter ihnen Winkler, den es nach mehreren Aufenthalten in Varanasi, der heiligsten Stadt der Hindus, nach Kolkata zog.

Dort fertigte er minutiöse Notizen von Bestattungsritualen, Markt- und Opferszenen im lokalen Tempel an, allesamt Motive, die Winkler schon beispielsweise in seinem Indien-Buch „Domra. Am Ufer des Ganges“ (1996) oder in seiner römischen Novelle „Natura Morta“ (2002) in die ihm eigene, bildhafte Sprache übersetzte.

Detaillierte, ethnologische Vorarbeit

Die Notizen sind als eine Art detaillierter ethnologischer Vorarbeit zu den literarischen Texten zu verstehen, wie Winkler im ORF.at-Interview erklärte: „Wenn ich auf der Straße etwas aufzeichne, schreibe ich das in ganzen Sätzen und detailliert auf.“ Zwischen den Aufzeichnungen und der literarischen Ausarbeitung vergingen im Fall der „Kalkutta“-Tagebücher über acht Jahre.

Josef Winkler
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Autor Winkler: „Wenn ich auf der Straße etwas aufzeichne, schreibe ich das in ganzen Sätzen und detailliert auf“

Was jetzt in „Der Stadtschreiber von Kalkutta“ zu lesen ist, greift zwar auf die Beobachtungen und Notizen zurück, ist aber stark verdichtet und neu arrangiert, wie Winkler erzählte: „Was den ‚Stadtschreiber von Kalkutta‘ betrifft, wenn da jemand die Notizbücher in ihrer Chronologie durchschauen würde, der würde sich sehr wundern, womit ich beginne, welche Bilder ich miteinander verbinde, zusammenmontiere, zusammenknüpfe. Das hat letzten Endes mit einer Chronologie eines Notizbuches gar nichts zu tun.“

Natura Morta in Indien

Die Struktur des Buches ähnelt einem Stillleben. Wie in dem Gemäldegenre, das ab dem 17. Jahrhundert in der europäischen Maltradition bedeutsam wird und auf Italienisch Natura Morta genannt wird, gruppiert Winkler Motive zu einer ausdrucksstarken Zusammenstellung.

Am Einäscherungsplatz von Kolkata namens Nimtala Ghat beobachtet Winklers Erzähler die „Dom“, Mitglieder der Kaste der Unberührbaren, welche für die Verbrennungsrituale am Fluss Hugli zuständig sind. „Die Dom verkaufen Holz, nehmen für jeden Leichnam, der eingeäschert wird, eine Gebühr ein und hüten das ewig brennende heilige Feuer, von dem alle Scheiterhaufen angezündet werden.“

Winkler, seit seinen literarischen Anfängen mit dem Debütroman „Menschenkind“ (1979) Experte für zunächst katholische, später allgemein für Riten, schildert die Abläufe rund um die Einäscherungsrituale wie eine Mischung aus Soziologe und Maler, der durch einen ungünstigen Zufall gezwungen ist, auf Worte anstatt Farben zurückzugreifen: „Von den immer noch mit Blumen geschmückten, leeren Betten, auf denen die Toten lagen, fressen schwarze Ziegen weinrote Rosenblütenblätter und Tagetesblüten, die sogenannten Marygold.“

Arrangierte Bilder

Mit „Der Stadtschreiber von Kalkutta" schließt Winkler stilistisch und technisch an seine römische Novelle „Natura Morta“ (2002) an, in der die Beobachtungen um den einstmalig heruntergekommenen Markt an der Piazza Vittorio Emanuelle in Rom kreisen. Bei beiden Büchern ging Winkler ähnlich vor. Zunächst entstanden an Ort und Stelle ausführliche Aufzeichnungen, die er später transkribierte, um sie dann in einzelne, motivische Szenen zusammenzuführen.

Der Vittorio Emanuele Platz in Rom
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Piazza Vittorio Emanuelle in Rom: Winkler ging bei „Natura Morta“ und dem „Stadtschreiber“ ähnlich vor

Die Idee zu dieser Methode kam ihm beim Schreiben von „Natura Morta“, als er seine Notizen mit Marktbeobachtungen durchlas, wie er erklärte: „Dann bin ich auf diese Idee gekommen. Aus allen Notizbüchern werde ich jetzt die Bilder von den Fleischständen zusammensammeln und in eine Mappe legen. Alle Bilder mit den Beobachtungen über Monate von den Fischständen, von den Bildern mit Fisch sozusagen, ebenfalls herausholen und in eine Mappe legen.“

Die arrangierten Bilder funktionieren auch in „Der Stadtschreiber von Kalkutta“ wie ein Stillleben. Die einzelnen Schauplätze dienen als Zusammenhalt für die Bilder, die stets zwischen Lebendigkeit und Tod oszillieren.

Teilnahmslose Beobachtung

Winklers Erzähler zieht es jeden Tag an seine Schauplätze, um die opulente indische Realität in Aufzeichnungen zu verwandeln. Dabei entfaltet er eine subtile Beschreibung der sozialen Wirklichkeit. Durch die Aneinanderreihung der Szenen auf dem Markt verfolgt er die Verarbeitung und den Verkauf von Fleisch und Fisch, und es wird deutlich, dass für die Ärmsten der Armen nur übrig bleibt, was wortwörtlich als Rest abfällt: „Eine andere, alte hagere Frau mit Eissplittern im Gesicht macht sich über die Fischeingeweide her und klaubt, Stück für Stück kontrollierend, die Fischhäute zusammen. Ein Mann sammelt die aufgehäuften Fischschuppen in ein Säckchen hinein. Aus einem Haufen Abfälle zieht eine Frau eine Fischhaut, rollt sie zusammen und steckt sie in einen blutverschmierten Plastiksack.“

Buchhinweis

Josef Winkler: Der Stadtschreiber von Kalkutta. Suhrkamp, 105 Seiten, 14,40 Euro. Am Donnerstag um 19.30 Uhr liest Winkler im Rahmen der Buch Wien im Cafe Museum aus dem Werk.

Durch die Beschreibungen von verdichteten Beobachtungen blitzt immer wieder die Wirklichkeit auf, ohne dass sie erklärt oder bewertet werden müsste. Der Erzähler ist ein teilnahmsloser Beobachter, der registriert, aber nicht interpretieren will. Die Umgebung wirkt auf ihn ein, was sie bei ihm auslöst, erfährt der Leser kaum. Immer wieder gibt es Szenen, in denen Eissplitter der Fischhändler oder Bluttropfen von Opfertieren auf das rote Notizbuch des Erzählers spritzen. Das kann man als subtile Metapher des meisterhaften Erzählers Winkler verstehen. Die Wirklichkeit drängt sich dem Schreibenden in ihrer Brutalität auf, er aber wählt aus, ordnet, stilisiert – und verwandelt sie dadurch in Literatur.

Ein schillernder Prosateppich

Spätestens bei den Opferritualen im hinduistischen Kalighat-Tempel ist man ganz in Winklers literarischer Welt angekommen. „Zwei Kleinkinder, ein Mädchen und ein Junge, verabschieden sich in Begleitung ihrer Eltern und eines zahnlosen Priesters von ihrem Zicklein. Der Junge berührt das Tier liebevoll an der Schnauze und streichelt sein Gesicht.“ Die beiden Kinder, die betend zusehen, wie ihr Tier geschlachtet wird, führen zurück in die Motive aus Winklers Kindheit, die er am Kärntner Bauernhof seiner Eltern verbrachte und an dessen rauer, tiefkatholischer Umgebung er sich jahrzehntelang literarisch abarbeitete.

Menschen überqueren die Howrah Brücke zwischen Howrah und Kolkata
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Rabindra-Brücke (Howrah Bridge) in Kolkata: Farben, Kadaver, Blut und Blumen durchziehen Winklers Buch

„Man kehrt ja immer zum Ursprung des eigenen Lebens, und wenn das dann literarisiert wird, zum Ursprung des eigenen Schreibens zurück“, sagte Winkler dazu im Interview: „In meinen ersten drei Büchern stecken im Grunde alle Motive drin, die ich jemals in meinen Büchern auch in Zukunft verarbeiten werde, auch in Zukunft.“ Die Motivik wiederholt sich auch innerhalb von „Der Stadtschreiber von Kalkutta“. Farben, Kadaver, Blut und Blumen durchziehen das Buch.

Winkler: „Bei mir muss man damit rechnen, dass sich Satz für Satz ein Bild entwickelt und dass diese Bilder wiederkehren und die Motive immer wieder im nächsten oder übernächsten Kapitel zusammengefasst werden. Man kann sich einen Teppich vorstellen. Mein Schreiben ist, wenn ich die Form gefunden habe, ein Prosateppich. Auch ein Teppich hat nur wenige Details, und die werden immer wieder wiederholt und miteinander verknüpft.“ Im Fall von „Der Stadtschreiber von Kalkutta“ ist es ein schillernder, schaurig-schöner Prosateppich geworden, zu dem Winkler seine Aufzeichnungen verwebt hat.