Großbritanniens Premierminister Boris Johnson
Reuters/Phil Noble
Brexit

Schmutziger Start in britischen Wahlkampf

Der Brexit hängt wie ein Schatten über der kommenden britischen Parlamentswahl. Der britische Premierminister Boris Johnson will die Loslösung von der EU nun im Jänner finalisieren, wie er am Mittwoch sagte. Johnson läutete den Wahlkampf ein, indem er den politischen Gegner mit Stalin verglich. Die Stimmung ist aufgeheizt, viele Abgeordnete wollen deshalb bei der Wahl am 12. Dezember gar nicht mehr antreten.

Der gerade als Parlamentspräsident ausgeschiedene Konservative John Bercow, berühmt geworden durch seine „Order“-Rufe im Unterhaus, nahm sich am Mittwoch kein Blatt mehr vor den Mund. „Ich bin nicht mehr der Speaker, ich muss nicht mehr unabhängig sein“, so Bercow bei einem Treffen mit Auslandskorrespondenten in London. Er verurteilte den geplanten EU-Ausstieg scharf. „Ich denke, dass der Brexit der größte außenpolitische Fehler in der Nachkriegszeit ist, und das ist meine ehrliche Meinung“. Der Brexit werde sich nicht positiv auf das internationale Ansehen Großbritanniens auswirken. „Meine ehrliche Antwort ist, dass ich nicht denke, dass dies dem Vereinigten Königreich hilft.“

Bercows Worte dürften Premier Johnson nicht gefallen. Er will den Brexit nun im kommenden Jänner vollziehen. Man stehe am Beginn der Kampagne für eine Wahl, die „wie ich glaube die wichtigste für die Generation in unserem Land ist“, so Johnson am Mittwoch in Birmingham. Sollte er als Premier gewählt werden, werde er von Tag eins an daran arbeiten, „den Brexit im Jänner über die Bühne zu bekommen und die Unsicherheit hinter uns zu lassen“.

„Wie Stalin die Kulaken verfolgte“

Der Wahlkampf nahm am Mittwoch bereits einen untergriffigen Ausgang. Johnson verglich seinen Herausforderer Jeremy Corbyn mit dem sowjetischen Diktator Josef Stalin. Die Labour-Partei habe unter Corbyn einen regelrechten „Hass“ auf jede Art von Profitstreben entwickelt, schrieb Johnson im „Daily Telegraph“. Dabei werde mit dem Finger auf Individuen gezeigt – „mit einem Vergnügen und einer Rachsucht, wie es nicht mehr gesehen wurde, seit Stalin die Kulaken verfolgte“. Johnson bediente sich damit der verächtlich machenden Bezeichnung für wohlhabende Bauern in der Stalin-Zeit. Tausende dieser Bauern waren unter Stalins Terrorherrschaft getötet worden.

Johnson beschuldigte Labour auch, sich in der Skripal-Affäre auf die Seite Moskaus gestellt zu haben. „Kommen Sie mit uns, einer Regierung, die glaubt, dass Großbritannien selbstbewusst in der Welt auftreten sollte“, so Johnson in einer Rede vor dem Regierungssitz Downing Street 10. „Oder halten Sie es mit Jeremy Corbyn und der Labour-Partei, die sich an die Seite von (Kreml-Chef Wladimir) Putin gestellt haben, als Russland Giftattacken in den Straßen von Salisbury anordnete.“

Der ehemalige russische Doppelspion Sergej Skripal und seine Tochter Julia waren im März 2018 Opfer eines Giftanschlags im englischen Salisbury geworden und überlebten nur knapp. Die Regierung in London hatte sich schnell auf Russland als Ursprung des Nervengifts festgelegt. Labour-Chef Corbyn warnte hingegen, voreilige Schlüsse zu ziehen.

Corbyn für „grüne industrielle Revolution“

Johnson nahm am Mittwoch auch für sich in Anspruch, er wolle „Zehntausende große und kleine Unternehmen“ in Großbritannien unterstützen. Dagegen wolle Labour „alle mit Steuern erdrücken“. Labour will die Verstaatlichung zahlreicher Betriebe, eine Erhöhung des Mindestlohns und die Verringerung der Wochenarbeitszeit auf 32 Stunden erreichen. Dafür sind Steuererhöhungen für Reiche geplant.

Labour-Chef Jeremy Corbyn wird von Parteikollgeen empfangen
AP/PA/Pete Byrne
Jeremy Corbyns Labour liegt in den Umfragen hinter den Torys

Corbyn wies Johnsons Anwürfe via Twitter zurück. Johnsons Aussagen stünden für den „Unsinn“, der von Ultrareichen vorgebracht werde, um „ein wenig höhere Steuern“ zu vermeiden, schrieb der Labour-Chef. Seine Partei wolle innerhalb von zehn Jahren eine Million erschwinglicher Wohnungen errichten und einen „Kickstart“ für eine „grüne industrielle Revolution“ bewerkstelligen.

Vorsprung der Torys

Die Neuwahl in Großbritannien ist für den 12. Dezember geplant. Das Parlament tagte am Dienstag zum letzten Mal vor der Wahl und wurde danach offiziell aufgelöst. In den Umfragen hatten Johnsons Torys zuletzt einen beträchtlichen Vorsprung vor der Labour-Partei. Johnson hofft auf eine klare Mehrheit nach der Neuwahl, um das von ihm mit der EU ausgehandelte Brexit-Abkommen durch das Parlament zu bekommen.

Eigentlich hatte der Premierminister das Austrittsdatum 31. Oktober um jeden Preis einhalten wollen – nach eigener Aussage wollte er lieber „tot im Graben liegen“, als den Brexit zum dritten Mal zu verschieben. Er musste dann aber eine Verlängerung der Frist bis zum 31. Jänner beantragen, weil das Parlament dem Abkommen nicht im Eiltempo zustimmen wollte.

Jeder zehnte mag nicht mehr kandidieren

Bei der Wahl tritt rund jeder und jede zehnte Abgeordnete im Unterhaus nicht wieder an. Für viele ist dafür die aufgeheizte Stimmung der Grund. Morddrohungen, Beleidigungen, sexistische und rassistische Anfeindungen, besonders in Sozialen Netzwerken, sind häufig geworden. Zahlreiche Politikerinnen und Politiker erhielten nach eigenen Angaben über Soziale Netzwerke Todesdrohungen. Ihnen ist ein politisches Attentat gut in Erinnerung:
Die Labour-Abgeordnete Jo Cox war kurz vor dem Brexit-Referendum 2016 von einem Rechtsextremen ermordet worden.

Drohungen gab es zuletzt auch gegen Ministerinnen und Minister. Nach einer der letzten Brexit-Abstimmungen im Unterhaus konnten die Kabinettsmitglieder nur unter Polizeischutz das Parlament verlassen, wie die dpa berichtete. Eine prominente Stimme ist Kulturstaatsministerin Nicky Morgan. Die Beleidigungen hätten sich „enorm verändert“ und eine starke Wirkung auf ihre Familie, so die Konservative, die ihren Rückzug aus der Politik ankündigte.

Kein Wahlkampf im Dunkeln

Die Abgeordnete Heidi Allen, die kürzlich von den Torys zu den Liberaldemokraten gewechselt ist, schrieb in einem Brief an ihre Wählerinnen und Wähler: „Ich habe es geliebt, Ihre Abgeordnete zu sein, aber ich kann nicht mehr angesichts der Übergriffe auf mein Privatleben, der Gehässigkeit und Einschüchterung, die normal geworden sind. Niemand – egal in welchem Job – sollte Drohungen und aggressive E-Mails hinnehmen müssen, sich auf der Straße anschreien oder in den Sozialen Netzwerken beschimpfen lassen müssen“, zitierte die ARD.

Laut der Tageszeitung „The Observer“ wurden die Kandidaten für die Parlamentswahl von ihren Parteien und der Polizei aufgefordert, „noch nie dagewesene Sicherheitsvorkehrungen“ zu ergreifen. Sie sollen nicht allein oder nach Einbruch der Dunkelheit auf Wahlkampftour gehen und auch keine fremden Wohnungen betreten. Die Parlamentsabgeordnete Antoinette Sandbach, eine prominente Brexit-Gegnerin, sagte der Zeitung, sie sei vom Parlament mit einem Pieper ausgestattet worden, der im Notfall direkt bewaffnete Polizisten anfordert.

Netzwerke zum Handeln aufgefordert

Die britische Regierung forderte inzwischen die Betreiber von Sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook auf, einheitliche Richtlinien zum Umgang mit Hasskommentaren und Drohungen gegen politische Kandidaten auszuarbeiten. Die Unternehmen sollten einen Ratgeber dazu vorlegen, wie Kandidaten Drohungen und Schmähungen melden könnten, sagte ein Regierungssprecher am Dienstag. „Die Freiheit, eine respektvolle, lebhafte und handfeste Debatte zu führen, darf keine Entschuldigung dafür sein, Hass zu verbreiten und anderen seine Sichtweise aufzuzwingen.“