Frankreichs Präsident Francois Macron
Reuters/AFP
Warnung an Europa

Macron bescheinigt NATO „Hirntod“

Wenige Wochen vor dem NATO-Gipfel zum 70-jährigen Jubiläum der Militärallianz hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron das Verteidigungsbündnis infrage gestellt. „Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der NATO“, sagte Macron dem britischen „Economist“ in einem am Donnerstag veröffentlichten Interview. Die europäischen Staaten warnte er darin eindringlich.

Europa stehe am Rande eines Abgrunds und müsse anfangen, strategisch über sich selbst als geopolitische Macht nachzudenken, sonst „haben wir nicht mehr die Kontrolle über unser eigenes Schicksal“. Für Europa sei es nun „höchste Zeit“ aufzuwachen, sagte der französische Präsident in dem Interview.

Heftig kritisiert er darin vor allem, dass es „keinerlei Koordination bei strategischen Entscheidungen zwischen den USA und ihren NATO-Verbündeten“ gebe. Die USA hätten seiner Meinung nach gezeigt, dass sie „uns den Rücken gekehrt haben“. Damit spielte er auf den Rückzug der US-Truppen aus Nordsyrien an, wodurch der Weg für eine türkische Militäroffensive gegen die Kurden geebnet wurde. Die europäischen NATO-Mächte Frankreich, Großbritannien und Deutschland wurden davon überrascht.

Heftige Kritik an NATO-Land Türkei

Macron hatte den Schritt als einen schweren Fehler der NATO kritisiert, weil die Glaubwürdigkeit des Schutzes westlicher Partner geschwächt worden sei. Zudem argumentiert er, die Europäer sollten aufhören, im Nahen Osten als Juniorpartner der USA zu agieren. „Wir finden uns das erste Mal mit einem amerikanischen Präsidenten wieder, der unsere Idee des europäischen Projekts nicht teilt“, sagte Macron weiter. Zudem zeige das NATO-Land Türkei ein „unkoordiniertes, aggressives“ Vorgehen in einem Bereich, in dem die Sicherheitsinteressen aller berührt seien.

Rauchsäule nach türkischem Angriff in einer syrischen Stadt
APA/AFP/Ozan Kose
Die Offensive des NATO-Landes Türkei in Nordsyrien wurde von einigen Bündnispartnern heftig kritisiert

Die Türkei hatte am 9. Oktober eine Offensive gegen die mit den USA verbündeten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) begonnen, die zu einem guten Teil von der Kurdenmiliz YPG gebildet werden, welche die Türkei als Terrororganisation betrachtet. Der Einmarsch wurde zunächst durch eine zwischen den USA und der Türkei ausgehandelte Waffenruhe gestoppt. Vor zwei Wochen hatten sich Moskau als Schutzmacht des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und Ankara darauf verständigt, nordsyrische Grenzgebiete zur Türkei gemeinsam zu kontrollieren. Die SDF sollte sich aus einer 30-Kilometer-Zone entlang eines mehr als 400 Kilometer langen Grenzstreifens zurückziehen.

Brexit-Chaos und politische Instabilität

Die europäischen Mitglieder des Verteidigungsbündnisses müssten, so Macron, „neu bewerten, wie die NATO in der Realität“ – und in Anbetracht der Beteiligung der USA – dasteht. Europa müsse seine militärische Souveränität wiedererlangen, schloss Macron daraus. In dem Gespräch, das nach Angaben des Magazins bereits Ende Oktober geführt wurde, zweifelte Macron auch offen an, ob ein Angriff auf ein NATO-Mitglied heute als Angriff auf alle betrachtet würde.

Die internationale Sicherheitslage und die aufstrebende Macht China hätten zu einer „außergewöhnlichen Schwäche Europas“ geführt. „Wenn sich Europa nicht als Weltmacht sehen kann, wird es verschwinden“, warnte Macron. Auch das anhaltende Brexit-Chaos schwäche Europa von innen. Wegen seiner Positionen zum Brexit und zur EU-Erweiterung stand er zuletzt mehrmals in der Kritik. Der NATO-Gipfel findet am 3. und 4. Dezember in London statt. In diesem Jahr feiert das Bündnis den 70. Jahrestag seiner Gründung.

Stoltenberg warnt vor Keil zwischen USA und Europa

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte bei einem Besuch in Berlin indes davor, einen Keil zwischen die USA und Europa zu treiben. „Jeglicher Versuch, Europa von Nordamerika zu distanzieren, wird die transatlantische Allianz nicht nur schwächen“, sagte er, „er birgt auch das Risiko, Europa selbst zu spalten.“ Europäische Einheit könne „die transatlantische Einheit nicht ersetzen“.

Europa und Nordamerika machten in der NATO heute trotz der Unterschiede mehr miteinander als seit vielen Jahren, sagte Stoltenberg. „Die Vereinigten Staaten lassen Europa nicht im Stich, ganz im Gegenteil. Sie investieren in die Sicherheit Europas, mit mehr Truppen, Infrastruktur und Übungen.“

Merkel weist Kritik zurück

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wies Macrons Kritik zurück. „Ich glaube ein solcher Rundumschlag ist nicht nötig, auch wenn wir Probleme haben, auch wenn wir uns zusammenraufen müssen“, sagte die Kanzlerin am Donnerstag nach einem Treffen mit Stoltenberg.

Auch der US-Außenminister Mike Pompeo und der deutsche Außenminister Heiko Maas bekräftigten am Donnerstag die Bedeutung der NATO für die gemeinsame Sicherheit. „Die USA bleiben Europas wichtigster Verbündeter und Deutschlands wichtiger Verbündeter außerhalb Europas“, sagte Maas bei einer gemeinsamen Pressekonferenz. Pompeo forderte zum Kampf für gemeinsame Werte auf. Die NATO bezeichnete er als eine der wichtigsten strategischen Partnerschaften in der Geschichte.

Volle Zustimmung erhielt der französische Präsident hingegen von Moskau. Dessen Aussagen seien „aufrichtig“ und „eine präzise Definition des aktuellen Zustands der NATO“, erklärte die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa am Donnerstag auf ihrer Facebook-Seite.

Bekenntnis zu Klimaabkommen

Im Zuge von Macrons China-Besuch und als Reaktion auf den US-Austritt bekannten sich Paris und Peking am Mittwoch zu dem Pariser Klimaabkommen. Dieses sei „unumkehrbar“, so der chinesische Staatschef Xi Jinping und Macron am Mittwoch in Peking. In einem gemeinsamen Papier warnten sie, dass „der Verlust biologischer Vielfalt und der Klimawandel weltweit den Frieden und die Stabilität bedrohen“. Macron bedauerte die Entscheidung anderer Länder, sich aus dem Abkommen zurückzuziehen, nannte die USA aber nicht beim Namen.

Am Montag hatte die US-Regierung offiziell ihren Ausstieg aus dem Abkommen verkündet. Präsident Donald Trump hatte diesen Schritt bereits im Juni 2017 angekündigt. Das Pariser Klimaabkommen hat zum Ziel, die Erderwärmung auf klar unter zwei Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Die Vertragsstaaten sollen sich anstrengen, sie bei 1,5 Grad zu stoppen. Die USA sind nach China der größte CO2-Emittent der Welt und sind für 14 Prozent aller CO2-Emissionen weltweit verantwortlich. Macron war Anfang der Woche zu einem dreitägigen Besuch nach China aufgebrochen.