Szene des Films „The Irishman"mit Al Pacino und Robert DeNiro
2019 Netlfix US, LLC
„The Irishman“

Der alte Mann und die Mafia

Viele Jahre haben Fans darauf warten müssen, bis Martin Scorsese sein Herzensprojekt endlich realisieren konnte. Nun kommt Scorseses ultimativer Mafia-Film „The Irishman“ ins Kino und bringt die altgedienten Filmmafiosi Robert De Niro (76), Al Pacino (70), Joe Pesci (76) und Harvey Keitel (80) gemeinsam vor die Kamera.

„Wir lassen uns Zeit. Viele Rauchpausen. Und ein paar Dinge sind unterwegs zu erledigen.“ Die beiden alten Freunde Russ Bufalino (Pesci) und Frank Sheeran (De Niro) und ihre beiden kettenrauchenden Ehefrauen sind unterwegs nach Detroit. Offiziell zur Hochzeit einer Nichte, tatsächlich aber in einer Friedensmission. Es gibt Streit in der Familie, im Freundeskreis, und jemand muss vermitteln.

Jahrzehnte später sitzt Sheeran im Rollstuhl in einem beigebraunen Altersheim, grantelt vor sich hin und versucht, sich zu erinnern, wie das damals war mit Russ und den Frauen. Und wie diese Freundschaft, noch viel früher, begonnen hatte. Wann und wie genau er Teil der Familie wurde, als er noch gar nicht so richtig wusste, wer diese Familie eigentlich ist.

Regisseur Martin Scorsese am Set des Films „The Irishman“
2019 Netlfix US, LLC
In seinem vielleicht letzten Mafia-Film versammelt Scorsese (r.) noch einmal die Schauspielgrößen des Genres

Der Fall Hoffa

Als Erinnerungsfilm an alte Freundschaften beginnt „The Irishman“, Scorseses jüngster und womöglich ultimativer Mafia-Film, der nun zwei Wochen lang im Kino zu sehen ist, bevor er ab 29. November im Streamingdienst Netflix läuft. Vorteil der Netflix-Produktion ist, dass sich Scorsese nicht einmal annähernd an das Kinoformat von etwa zwei Stunden halten muss: Großzügige dreieinhalb Stunden dauert „The Irishman“, und das Erzähltempo fühlt sich dank Scorseses langjähriger Filmeditorin Thelma Schoonmaker genau richtig an.

Die Geschichte basiert auf dem 2004 erschienenen Buch „I Heard You Paint Houses“ des ehemaligen Hilfssheriffs Charles Brandt. Darin erzählt der echte Frank Sheeran auf dem Totenbett, wie sich das Verschwinden des US-Gewerkschaftsbosses Jimmy Hoffa (Al Pacino) im Juli 1975 abgespielt hat. Der Fall Hoffa ist einer der großen ungeklärten Fälle der US-amerikanischen Justizgeschichte.

Szene des Films „The Irishman“ mit Al Pacino
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Pacino als Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa

Ein Ire unter Italienern

In den 50er Jahren sei Hoffa „so groß wie Elvis, in den 60ern so berühmt wie die Beatles“ gewesen, sagt der fiktive Sheeran im Film. Dann kam der Gewerkschaftsführer unter anderem wegen Betrugs ins Gefängnis, wurde unter Richard Nixon begnadigt und verschwand wenige Jahre danach spurlos. Seine Macht gründete nicht zuletzt darauf, dass er sich mit der amerikanischen Mafia eingelassen hatte, der er aus dem Pensionsfonds seiner Gewerkschaftsmitglieder Kredite gewährte. Ob auch sein Verschwinden damit in Zusammenhang stand, ob es eine schiefgegangene Entführung war, ob Mord, ist bis heute nicht geklärt.

„The Irishman“ erzählt die Geschichte aus der Sicht Sheerans. Zu Beginn der 50er ist er ein einfacher Lastwagenfahrer, der sich ein Zubrot verdient, indem er einem Mafia-Gourmet einen Teil seiner Fleischladungen unter der Hand verkauft. Frank Irish, wie er bald genannt wird, als einziger Ire unter italoamerikanischen Mobstern, ist Kriegsveteran, kämpfte in Sizilien und Süditalien gegen die Deutschen.

Mit diesem Know-how ist der ehemalige Soldat bald nicht mehr nur als Lieferant für Hinterviertel vom Rind gefragt, sondern bekommt noch ganz andere Aufträge, die er loyal erledigt: „Du warst im Krieg, du weißt, was zu tun ist. Brenn den Laden nieder, bis er aussieht wie Berlin.“ Er lernt das Mafia-Familienoberhaupt Russell Bufalino (Pesci) kennen, die Familien freunden sich an. Viele Jahre später wird er als persönlicher Beschützer von Gewerkschaftschef Hoffa engagiert. Auch in diesem Fall wird aus der Arbeitsbeziehung rasch eine Freundschaft.

Ein Film, der sich Zeit lässt

Der Film lässt sich viel Zeit für seine Erzählung einer Gangsterlaufbahn und für das Ausleuchten des Macht- und Sozialgefüges innerhalb der Familien, Mafia-Familien und Gewerkschaften. Es ist eine Geschichte von großer Freundschaft und Liebe und Eifersucht unter Männern. Geheimnisse, Umarmungen und Hotelzimmer werden geteilt. Wenn gelegentlich Frauen im Bild sind, ist es nicht einmal nennenswerte Ablenkung. Lediglich Frankies Tochter Peggy (Oscar-Preisträgerin Anna Paquin) ist eine Figur mit Agenda, darf aber meist nicht mehr als kritische Blicke werfen.

Szene des Films „The Irishman“ mit Joe Pesci und Robert De Niro
2019 Netlfix US, LLC
Zwei wie Pech und Schwefel: Sheeran (re.) und Russ Bufalino (Pesci)

Dass sich Scorsese als Vertreter eines Kinos, das noch in den Augen der altmodischsten Puristen den Namen Kino verdient, mit Netflix eingelassen hat, haben ihm viele übel genommen. Der Film wäre jedoch in der gegenwärtigen Kinolandschaft, die zwischen Eventfilmen und schlank finanzierten Dramen kaum Abstufungen kennt, für Scorsese nicht zufriedenstellend umsetzbar gewesen. Auch „The Irishman“ setzt nämlich auf teure Spezialeffekte – allerdings nicht in den Actionszenen, sondern in den Gesichtern der Schauspieler.

Besonders im Fall von De Niro, der Sheeran über sechs Lebensjahrzehnte verkörpert, aber auch bei den meisten anderen Darstellern sind die Gesichter digital verjüngt, und das ziemlich überzeugend. Lediglich anfangs braucht es eine Eingewöhnungsphase, bis das innere Auge den regulär gealterten De Niro vergessen hat und den jungen De Niro auf der Leinwand als glaubwürdig annehmen kann.

Schwanengesang der alten Herren

„The Irishman“ ist das Drama eines Mannes, der die wichtigen Entscheidungen im Leben alle falsch trifft, dadurch eine Zeit lang sehr mächtig ist und später sehr alleine. Schon wegen der Besetzung sind die Rückbezüge zu Scorseses eigenen Mafia-Filmen wie „Departed – Unter Feinden“, „Hexenkessel“ und „GoodFellas“ unübersehbar. Und doch: Jede Nostalgie, die vielleicht im Laufe des Films aufkommt, demontiert Scorsese am Ende nüchtern und in aller Ausführlichkeit.

Da ist keine Neuerfindung in „The Irishman“, aber mit großer Brillanz mehr vom Selben, ein Schwanengesang dreier großer Schauspieler und eines fantastischen Regisseurs auf höchstem technischen Niveau. Der Mafia-Film ist tot. Lang lebe die Mafia-Filmgeschichte.