Blick durch ein Türfenster in eine psychiatrische Abteilung
APA/AFP/Joel Saget
US-Psychiatrie

Die Studie, die es so nie gab

Eine in der Originalpublikation nur acht Seiten lange Studie des US-Psychologieprofessors David Rosenhan hat in den 1970er Jahren die Sicht auf die US-Psychiatrie völlig geändert und zu teils grundlegenden Reformen geführt. Jüngste Entdeckungen ziehen die als wegweisend in die Geschichte der US-Psychologie eingegangene Studie allerdings stark in Zweifel. So habe es das Experiment so gar nicht gegeben, wie die Journalistin und Autorin Susannah Cahalan mit ihren Recherchen belegt.

Laut der Rosenhan-Studie ließen sich acht gesunde Freiwillige als Pseudopatienten und -patientinnen, die also ihre Symptome nur vorspielten, unter falschen Namen „undercover“ in verschiedene psychiatrische Krankenhäuser einweisen. Das Resultat erschütterte die US-Psychiatrie.

Ein nationaler Aufschrei über die schlechten Bedingungen in den US-Psychiatrieinstitutionen und das teils auch demütigende Verhalten des medizinischen und pflegenden Personals gegenüber den Patienten waren die Folge. Rosenhans Studie führte zur Schließung zahlreicher psychiatrischer Einrichtungen quer durch die USA und änderte die psychische Gesundheitsvorsorge in den USA für immer.

Die Autorin und Journalistin Susannah Cahalan
Reuters/Mark Blinch
Susannah Cahalan konnte durch ihre Recherchen belegen, dass die Rosenhan-Studie so nie durchgeführt wurde

Autorin Opfer einer Fehldiagnose

Cahalan hat einen persönlichen Bezug zu der US-Psychiatrie. Sie „stolperte“ bei einer Lesereise für ihr erstes Buch „Feuer im Kopf: Meine Zeit des Wahnsinns“, in dem sie ihre Zeit in der Psychiatrie als Schwerstpflegefall verarbeitete, über die Rosenhan-Studie.

Doch Cahalan war Opfer einer Fehldiagnose. Cahalan war in der Psychiatrie falsch aufgehoben, wie sich erst später herausstellte – sie litt nämlich „nur“ an einer erst kürzlich entdeckten Autoimmunerkrankung. War dies erkannt, konnte sie entsprechend schnell behandelt werden und die Psychiatrie verlassen.

Auch die Popkultur kritisiert die Psychiatrie

Fast fünfzig Jahre nach Veröffentlichung der Studie ergab eine Recherche von Cahalan für ihr Buch „The Great Pretender“ über Rosenhan und seine Studie, dass das alles so nicht stimmt und die Studie gar nicht in der beschriebenen Art stattgefunden hat, wie Cahalan auch in einem Artikel für die „New York Post“ schreibt.

Auch spielte der Zeitgeist offenbar eine große Rolle: Anfang der 70er Jahre war man in den USA der Psychiatrie und ihren Institutionen gegenüber zutiefst misstrauisch eingestellt, so Cahalan. Bücher und Filme wie etwa Ken Keseys „Einer flog über das Kuckucksnest“, verfilmt von Milos Forman mit Jack Nicholson in der Hauptrolle, „Shock Corridor“ und „The Snake Pit“ prägten die popkulturelle Kritik an der Psychiatrie und ihren dominanten Ansätzen.

Szene des Films „Einer flog über das Kuckucksnest“ mit Jack NIcholson und Will Sampson
picturedesk.com/Mary Evans/Ronald Grant Archive
Jack Nicholson und Will Sampson in der Verfilmung von „Einer flog über das Kuckucksnest“

Seltsame Stimmen: „Dumpf“, „leer“ und „hohl“

Laut der von Rosenhan veröffentlichten Studie folgten seine acht gesunden Patienten alle dem gleichen einfachen Skript, um in den von Rosenhan im ganzen Land ausgewählten psychiatrischen Einrichtungen aufgenommen zu werden. Sie sollten den Ärzten und Ärztinnen sagen, dass sie eine seltsame Stimme hörten, die „dumpf“, „leer“ und „hohl“ sagt. Basierend auf diesem einzigen Symptom, behauptete die Studie, sei bei allen Pseudopatienten und -patientinnen eine psychische Krankheit diagnostiziert worden – meist Schizophrenie. Einmal diagnostiziert, sei es schwierig, das Gegenteil zu beweisen, hieß es weiter.

Alle acht wurden laut der Rosenhan-Studie für durchschnittlich 19 Tage eingewiesen. Der längste Aufenthalt betrug gar 52 Tage bis zur Entlassung aus der Klinik. Alle verließen die Spitäler auch gegen die ausdrückliche Empfehlung der sie betreuenden Ärzte und Ärztinnen. Insgesamt sollen ihnen – die Betroffenen führten über ihre Medikation laut der Studie auch geheim Buch – 2.100 Pillen, also schwere Medikamente, verabreicht worden sein.

Die Studie löste nach ihrer Veröffentlichung in dem renommierten Fachmagazin „Science“ Anfang 1973 eine Reformbewegung in der US-Psychiatrie aus. So wurden im Zuge der heftig geführten Debatte etwa die Patientenrechte gestärkt und die geschlossenen Abteilungen reformiert.

Auf der Suche nach den Pseudopatienten

Doch Cahalans Recherchen belegen nun, dass das Experiment so gar nicht durchgeführt worden ist. Der erste Pseudopatient – „David Lurie“ – war laut Cahalan Rosenhan selbst. Er ließ sich 1969 unter dem Pseudonym neun Tage lang selbst einweisen. Seine Erlebnisse waren offenbar so schockierend, dass der Psychologieprofessor anschließend sicherstellte, das Experiment mit seinen daran interessierten Studenten und Studentinnen nicht zu wiederholen.

Das machte Cahalan bei ihrer Recherche stutzig. Wer waren dann die anderen Patienten und Patientinnen, die Rosenhan in seiner Studie erwähnte? Auch publizierte Rosenhan, der mit eben einer einzigen Studie zu Ruhm und Anerkennung gekommen war, nur ein einziges weiteres Paper als Verteidigung und sonst keine Studie mehr über Psychiatrie im Spital.

Zahlreiche Ungereimtheiten

Cahalan fielen bei ihrer Recherche immer mehr Ungereimtheiten zwischen schriftlichen Unterlagen, die sie entdeckte, und Rosenhans abschließender Studie auf. So entdeckte sie den Krankenakt von „David Lurie“, also von Rosenhan. Laut diesen Unterlagen zeigte Patient „Lurie“ andere Symptome als die ausgemachten Stimmen. Er erzählte den Ärzten, dass er sich einen Kupfertopf über die Ohren stülpte, um die Geräusche auszublenden und dass er Selbstmordabsichten habe – also viel schwerere Symptome, als in der Studie angegeben.

Bei ihrer Suche nach Rosenhans Pseudopatienten fand Cahalan nach langwieriger Recherche zuerst nur einen, wie das Magazin „Nature“ schreibt. Zuvor hatte sie zahlreiche Personen, die Rosenhan kannten, interviewt, um auf die Spur der Pseudopatienten zu kommen. Auch zahlreiche Krankenakten wurden von Cahalan durchforstet – ohne Erfolg.

„Nur erklärt, wie man die Pillen im Mund versteckt“

Schließlich hatte sie jedoch Glück und fand einen Pseudopatienten – den ehemaligen Stanford-Studenten Bill Underwood. Underwoods Darstellung zog schließlich das Ergebnis der ganzen Studie in Zweifel. Rosenhans Entwurf zu seiner Studie beschreibt, wie genau und detailliert er seine Pseudopatienten auf den Aufenthalt in der Psychiatrie vorbereitet hat.

Underwood konnte sich allerdings nur an eine kurze Einführung erinnern. Hauptsächlich sei es dabei darum gegangen, wie man die Pillen, um die Medikamente nicht zu schlucken, am besten im Mund versteckt, heißt es in dem „Nature“-Artikel weiter.

Cahalan fand auch Ungereimtheiten im Zahlenmaterial. So soll Underwood laut Rosenhan sieben Tage in einem Spital mit 8.000 Patienten verbracht haben, indes war er, wie Cahalan herausfand, acht Tage in einem Krankenhaus mit 1.500 Patienten untergebracht. Bis Cahalan ihn fand, war Underwood nie der Gedanke gekommen, dass etwas mit der Studie nicht in Ordnung sein könnte, dass die Studie von Rosenhan gefälscht worden sein könnte.

Positiver Aufenthalt wurde nicht aufgenommen

Über Underwood fand Cahalan schließlich einen zweiten Pseudopatienten namens Harry Lando, wie die „New York Times“ schreibt. Laut Rosenhans Studie wurden Daten von Landos Psychiatrieaufenthalt aus technischen Gründen ausgeschlossen. Angeblich soll er Teile seiner persönlichen Angaben gefälscht haben, als er eingewiesen wurde. Lando, der Pseudopatient Nummer neun gewesen wäre, wurde, wie Cahalan entdeckte, aber aus der Studie herausgenommen, weil seine Erlebnisse zu positiv waren. Lando war 19 Tage in einer Klinik in San Francisco eingewiesen.

Die Patienten und Patientinnen konnten dort ihren Tag selbst gestalten. Das medizinische Personal trug auch keine Uniformen, also keine Arbeitskleidung. Lando besuchte Gruppentherapien und machte auch einen Tagesausflug an den Strand mit. „Das Spital schien einen beruhigenden Effekt zu haben“, sagte er später zu Cahalan. Rosenhan kommentierte seine Einschätzung der Erlebnisse Landos auf seinen Notizen in Blockbuchstaben mit „Er mag es“ und nahm Lando von der Studie aus.

Diagnosehandbuch neu geschrieben

„Vielleicht hätte man in der Studie dann auch den Gedanken gehabt, dass es Institutionen gibt, die auch etwas richtig machen“, so Cahalan, dass sie also vielleicht nicht sämtlich zu verteufeln seien. Stattdessen gab Rosenhans Studie der wachsenden Anti-Psychiatrie-Bewegung einen wissenschaftlichen Anstrich, so die „New York Times“. Innerhalb eines Jahrzehnts wurden Dutzende psychiatrische Kliniken in den USA geschlossen, und die Zahl der Psychiatriepatienten sank um 50 Prozent.

Die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft schrieb ihr Diagnosehandbuch komplett neu, wie die Zeitung weiter schreibt. Die Freud’schen Begrifflichkeiten wurden aus dem Handbuch gestrichen und durch rigide Checklisten für standardisierte Diagnosen ersetzt.

Extremere Geschichte passte besser

Hätte Rosenhan etwas weniger Drastisches, dafür aber etwas Subtileres veröffentlicht, wäre die Wahrscheinlichkeit sehr groß gewesen, dass es keine öffentliche Aufmerksamkeit bekommen und daher keine Auswirkungen gehabt hätte, so die „New York Times“ in einer Kritik des Buches. 1973 sei die Öffentlichkeit bereit gewesen, die extremere Geschichte, die er in seiner Studie erzählte, zu glauben.

Seine Studie habe gerade deshalb so viel Aufmerksamkeit bekommen und Staub aufgewirbelt, da es in die Anti-Establishment-Strömung gepasst habe. Der damalige Zeitgeist war durch die Watergate-Affäre rund um US-Präsident Richard Nixon, der schließlich zurücktrat, und die daraus resultierende Paranoia geprägt. Rosenhans Studie sei perfekt darauf zugeschnitten gewesen.