Frau steht vor Fenster
Getty Images/Christoph Hetzmannseder
Tatort Zuhause

Wo Frauen besonders gefährdet sind

Eine von drei Frauen in Europa hat in ihrem Leben schon mindestens einmal Gewalt erfahren, auch in Österreich. Die Täter sind meist männliche Familienmitglieder, der Tatort das Zuhause. Dazu gehören körperliche und psychische Gewalt, sexuelle Übergriffe und Tötung. Doch Vergleiche unter den EU-Ländern erweisen sich als schwierig.

Denn nicht alle Länder erheben die gleichen Daten, nicht alle Behörden arbeiten gleich, und auch die Rechtslage kann unterschiedlich sein. „Wir sind vollständig davon abhängig, vergleichsbasierte Daten zu erhalten, sodass wir robuste und sichere Schlussfolgerungen ziehen können“, beschreibt die Genderforscherin Blandine Mollard vom Europäischen Institut für Geschlechterfragen (EIGE) gegenüber ORF.at die Schwierigkeit, Gewalt an Frauen in der EU generell in Zahlen zu fassen.

EU-Institute wie EIGE erhalten die Zahlen vom EU-Statistikamt Eurostat, dieses wiederum idealerweise von allen EU-Staaten. Detaillierte Informationen zu vorsätzlicher Tötung werden laut EIGE von den Polizeibehörden Dänemarks, Griechenlands, Luxemburgs, Litauens, Maltas und Polens allerdings gar nicht erhoben. Dagegen liefern Frankreich und Großbritannien viele Statistiken – etwa zum Motiv, zur Waffe und zu den Umständen.

EU-weit pro Jahr rund 3.500 Frauen zu Hause getötet

Hinzu kommt die Dunkelziffer, da nicht alle Straftaten angezeigt werden. Geschätzt wird aber, dass in der EU jedes Jahr rund 3.500 Frauen in ihrem Zuhause getötet werden. Auch in Österreich ist die eigene Wohnung statistisch gesehen immer noch jener Ort, wo Frauen am meisten gefährdet sind. Wie das Bundeskriminalamt erhob, wurden 2018 in Österreich insgesamt 41 Frauen umgebracht. Zumeist bestand dabei eine familiäre Beziehung zwischen Opfer und Täter.

Frauenhelpline

Die Beratungs- und Hilfsangebote der Frauenhelpline sind an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr erreichbar. Unter 0800/222 555 finden Betroffene anonym, gratis und mehrsprachig Hilfe und Unterstützung.

Auch 2019 gab es in Österreich bereits mehrere Gewalttaten gegen Frauen mit tödlichem Ausgang. Schon in den ersten 15 Tagen im Jänner sind in Österreich vier Frauen von Männern, die ihnen nahestanden, getötet worden.

Der Fall in Kitzbühel im Oktober, wo ein junger Mann seine Ex-Freundin, deren Eltern, ihren Bruder sowie den neuen Partner erschoss, sorgte zuletzt für besondere Bestürzung im ganzen Land. Dazwischen kam es zu mehreren weiteren Tötungen an Frauen in Österreich. Die bisherige Zahl der getöteten Frauen 2019 wollte das Bundeskriminalamt ORF.at allerdings nicht bekanntgeben und verwies auf einen späteren Veröffentlichungszeitpunkt.

Istanbul-Konvention nicht von allen ratifiziert

Italien, Deutschland und Großbritannien gehören zu jenen EU-Ländern, in denen die meisten Tötungen von Frauen registriert werden. Besonders hoch ist die Anzahl vorsätzlich getöteter Frauen, in Relation zur Bevölkerungszahl, in Lettland, Litauen und Tschechien. Darüber hinaus zeigen die in Europa verfügbaren Tötungsstatistiken eine Geschlechterspezifik. Während die Zahl der männlichen Opfer in den vergangenen Jahren abgenommen hat, bleibt jene der Tötungen von Frauen relativ konstant.

Karte zeigt Staaten der Istanbul-Konvention

Der Europarat hat mit der Istanbul-Konvention schon vor einigen Jahren ein Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt geschaffen. Ein wichtiges Augenmerk wird dabei auch auf Gewaltprävention gelegt, etwa bereits im Schulunterricht. Denn die Auswirkungen von Gewalt an Frauen sind häufig verknüpft mit Gewalt an Kindern. Die Konvention trat 2014 in Kraft, wurde von 46 Mitgliedsstaaten unterschrieben und von 34 ratifiziert und schafft verbindliche Rechtsnormen. Ihre Einhaltung wird von einer Expertenkommission überwacht, die Eiluntersuchungen an Ort und Stelle durchführen kann.

Eine einheitliche Definition von Gewalt in der ganzen EU gibt es allerdings nicht. In Osteuropa setzen sich besonders Vertreterinnen und Vertreter der römisch-katholischen Kirche gegen eine Ratifizierung und Umsetzung des Abkommens ein, da der Vertrag nach ihrer Auffassung zu sehr von der Gendertheorie geprägt sei. Das kritisiert auch Evelyn Regner (SPÖ), Vorsitzende des Frauenausschusses im Europaparlament, im Gespräch mit ORF.at. Sie weist auf das Framing hin, das in manchen Ländern stattfindet.

„Wie wenn Urinstinkte ausgelöst würden“

So würde in vielen Ländern Osteuropas völlig unbegründet und falsch von Regierungen und örtlichen Medien behauptet, Verfechterinnen und Verfechter von Gender Mainstreaming würden Pädophilie verteidigen. „Wir kritisieren das scharf, dass Rechte und extreme Rechte sich den Begriff der Pädophilie aneignen, um gegen Homosexuelle zu hetzen“, sagte Regner. „Da wird Angstpropaganda erzeugt, um in Wirklichkeit bestehende Macht- und Hierarchieverhältnisse einzuzementieren.“

Demo gegen Gewalt gegen Frauen in Paris
AP/Thibault Camus
Frauen gedachten in Paris in einem Protest all jener Frauen in Frankreich, die von ihren Partnern getötet wurden

Regner verweist auf polnische PiS- und deutsche AfD-Abgeordnete, die im EU-Parlament zum Teil erschreckende Dinge von sich geben würden – etwa, das Ehemänner ihre Frauen bestrafen sollten. „Wie wenn Urinstinkte ausgelöst würden“, beschreibt die Ausschussvorsitzende so manche Debatte. Sie fordert daher genaue Daten: „Da muss jeder Staat seine Aufgaben machen“, so Regner. „Die Daten existieren ja, das Problem ist nur, dass jedes Land das anders kategorisiert.“

Mehr Vergewaltigungen in Österreich angezeigt

Auch die Anzeigen von Vergewaltigung und sexueller Belästigung werden nicht von allen EU-Staaten an Eurostat weitergegeben – oder erst gar nicht als spezifische Straftaten in die nationalen Register aufgenommen. So wurden 2017 rund 90.600 Vergewaltigungen und 127.400 Fälle der sexuellen Belästigung an Eurostat weitergegeben, doch gibt es von zehn EU-Ländern keine Daten. Auch Österreich scheint in der Eurostat-Liste von der letzten Erhebung 2017 nicht auf, das Bundeskriminalamt nannte ORF.at aber die Zahl der angezeigten Vergewaltigungen, die von 2017 (817) bis 2018 (936) um 14,6 Prozent gestiegen ist.

Ganz besonders prekär ist in Europa nicht nur die Datenlage zu Gewalt gegen LGBT-Personen und Frauen, die intersektional von Gewalt betroffen sind, sondern auch deren Schutz. Intersektionalität beschreibt die Überschneidung von verschiedenen Diskriminierungsformen in einer Person. Also beispielsweise, wenn eine von Gewalt bedrohte Frau noch zusätzlichen Schutz benötigt, weil sie einer ethnischen Minderheit angehört, lesbisch ist, eine Behinderung hat.

Regionale Unterschiede im Umgang mit Gewalt

Um sexueller Gewalt – also sexueller Belästigung und Vergewaltigung – vorzubeugen, empfehlen viele Expertinnen und Experten Sexualkundeunterricht sowie einen offenen Umgang mit Körper und Geschlecht in der Gesellschaft. Doch das wird in einigen Ländern Europa anders gesehen. So brachte Polens PiS-Partei einen Gesetzesvorschlag zum Verbot von Sexualkundeunterricht ein, den das EU-Parlament in einer Resolution scharf kritisiert hatte. Der umstrittene polnische Gesetzestext sieht vor, Menschen, die „Geschlechtsverkehr von Minderjährigen öffentlich propagieren oder gutheißen, mit einer Haftstrafe von bis zu zwei Jahren“ zu belegen.

Doch gibt es in der EU freilich auch Positivbeispiele, wie mit dem Problem der Gewalt gegen Frauen in der Gesellschaft umgegangen wird. Für Österreich nennt Regner etwa Frauenhäuser, Frauenhelplines und auf rechtlicher Ebene das Wegweiserecht, die einstweilige Verfügung, das Anti-Stalking-Gesetz sowie den Verhetzungsparagrafen. All das seien Maßnahmen, die leider nicht in allen EU-Ländern zur Verfügung stehen würden, so Regner.

Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen

Aufmerksamkeit, Schutz und Maßnahmen gegen Gewalt haben sich Frauen über Jahrzehnte lang selbst erkämpft, zuletzt durch die „MeToo“-Bewegung. Diese ist in den letzten Monaten zwar deutlich abgeflaut, doch kocht der Protest immer wieder hoch. Erst im September hatte es in Frankreich einen enormen Aufschrei in der Gesellschaft und zahlreiche Demonstrationen gegeben. Der Anlass war eine 92-jährige Frau, die von ihrem 94-jährigen Ehemann totgeprügelt wurde. Die Frau war das 101. weibliche Todesopfer in Frankreich in diesem Jahr.

Innerhalb weniger Stunden kündigte die französische Regierung eine Reihe von Maßnahmen zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt an – darunter 1.000 zeitweilige Unterkünfte und Wohnungen für schutzbedürftige Frauen inklusive einer Onlineplattform, die anzeigen soll, wo es freie Notschlafstellen gibt. Auch eine bessere Ausbildung für Polizisten und Polizistinnen wurde garantiert.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen zählt laut UNO zu den meistverbreiteten Menschenrechtsverstößen weltweit. Am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, finden deshalb jedes Jahr auf der ganzen Welt Proteste und Gedenkveranstaltungen zur Bekämpfung von Diskriminierung und Gewalt jeder Form gegenüber Frauen und Mädchen statt. Sie haben die allgemeine Stärkung von Frauenrechten zum Ziel.